Ein Schelm, der etwas wagte
Günter Feist, Kunsthistoriker, zur Ausstellungseröffnung Roger Loewig – Sieghard Pohl / GEGEN DEN STROM
Geboren wurde Sieghard Pohl in Breslau, gestorben ist er in Berlin, aber seine Kunst wurzelte in Leipzig. Man hat ihn den »Verlorenen Sohn der Leipziger Schule« genannt, doch eigentlich war er einer ihrer Protagonisten. Akribie im Zeichnerischen, Nähe zur Literatur und zur Historie, einen allegorisch oder metaphorisch gebrochenen Realismus trifft man schon beim jungen Pohl an, was die ausgestellten Federzeichnungen zur altgriechischen Mythologie belegen. Das Blatt »Die Helden sind unter sich«, in dessen Furioso auch gestalterisch gleichsam die Fetzen fliegen, wirkt wie eine Illustration zur Sicht der homerischen Heroen als mörderische Raufbolde, wie sie in Christa Wolfs Erzählung »Kassandra« zu finden ist. Allerdings ist das Pohlsche Blatt erheblich früher entstanden, nämlich schon 1964 und – in einem Gefängnis!
Trotz seiner Begabungen, die er unter anderem in einfühlsamen Märchenillustrationen erprobte, ist dieser Leipziger kein »Malerfürst« geworden. Als solcher ist er auch gar nicht vorstellbar, war er doch ein Schelm Villonschen Zuschnitts. Schon als Student redete er völlig unbekümmert. »Macht das Fenster zu, der Pohl kommt«, dieser Ausruf soll, Roland Richter zufolge, damals öfters zu hören gewesen sein. Mit der gleichen Unbekümmertheit fuhr Pohl immer wieder einmal via West-Berlin und per Bundes-Paß in die Welt hinaus und stellte danach obendrein Reisenotate bei Engewald aus. Dergleichen Unverfrorenheit mußte geahndet werden, weshalb Pohl wegen »Paßvergehens in schwerem Fall« 1961 das erstemal im Gefängnis landete. Hier konnte der Künstler die Wahrhaftigkeit der Borchertschen Erzählung »Die Hundeblume« selber nachvollziehen, und so illustrierte er sie dann auch. Henry Schumann sah die expressiven, schlagend sachverknappenden Linolschnitte in der zweiten Pohl-Ausstellung bei Engewald (1963). »Balladen für das Auge« schrieb er und sprach von »glänzenden Einfällen eines jungen Künstlers, der etwas wagt«.
Was Pohl sonst noch gewagt hatte, fand die Stasi bald darauf in dessen Wohnung: Lauter Satiren auf eine festgefahrene, ideologisch verklemmte, infam umzäunte Gesellschaft, die zu »entlügen« war. Alles wurde gleich mitgenommen, der Maler auch. Mit einem Staatswesen dieser Art hatte einer wie Pohl zusammenstoßen müssen. Die skurrile Phantastik, der oft beinahe fröhliche Sarkasmus, die tief bohrende Hintergründigkeit seiner Kunst hätten sich nur um den Preis der völligen Verbiegung integrieren lassen. Pohl blieb Pohl, wie Loewig Loewig blieb. Im Unterschied zu diesem faßte er die DDR nicht so sehr in ihren tragischen, sondern mehr in ihren grotesken, ja komischen Zügen, die aus der für Diktaturen typischen, geradezu zwanghaften ständigen Selbstüberzeichnung herrührten. Dem ebenfalls zum Bramarbasieren verdammten Militarismus aller Couleur hielt er in dem Blatt »Aufzucht einer Siegesallee« (1972) den elenden Abgesang eines tradierten, fast hörbar schnarrenden Schneids entgegen. Wie in jeder guten Komödie schimmert also auch in den Werken Pohls durch die Komik ein beträchtliches Quantum Grauen hindurch. Bei der antimilitaristischen »Schießtafel«-Serie (ab 1983) tritt das Grauen dann in reiner Gestalt zutage: »Schießscheibe sieht Entsetzliches« heißt eines dieser zu empfindungsfähigen Subjekten gewordenen Objekte.
Günter Feist
(zur Ausstellungseröffnung Roger Loewig – Sieghard Pohl / GEGEN DEN STROM, Leipziger Stadtbibliothek,
vom 12.12.2002 bis 15.03.2003)