2. 1994, Günter Feist

Günter_Feist_2011Leipziger Schule, ungehorsam
Günter Feist, Zum Tod des Malers Sieghard Pohl

Geboren ist er in Breslau, gestorben in Berlin, aber seine Kunst wurzelte in Leipzig. Den „Verlorenen Sohn der Leipziger Schule“ hat man ihn genannt, doch ist dieses Bild in mehrfacher Hinsicht schief. Sieghard Pohl lief ja eigentlich aus Leipzig gar nicht fort; man holte ihn ab. Auch kehrt er nicht wie jener biblische Sohn voller Reue nach Hause zurück. Im Gegenteil. Gewissermaßen ist Leipzig, nun „Heldenstadt“, ihm in die Fremde nachgefolgt. Und nicht er war zwischendurch versumpft, sondern seine Abschieber. Wie das „verloren“ paßt auch der „Sohn“ nicht recht, jedenfalls dann nicht, wenn man die „Leipziger Schule“ als Gefolge des Dreigestirns der bekannten Maler ansieht. Deren Schüler oder Adept ist Pohl in keiner Weise gewesen. Der bis zuletzt geradezu „jugendliche“ Elan des Feuerkopfes, der noch immer etwas bewegen wollte, mag Täuschung begünstigen, aber tatsächlich gehörte Pohl ihrer Generation an. Mattheuer und Tübke gegenüber hatte er gar ein paar Jahre voraus. Mit Heisig teilte er das Geburtsjahr: 1925. Wie als neckisches Angebot für vergleichende Gedankenspiele jeder Art halten die Biographien beider weitere Parallelen bereit. Auch Heisig war ein Breslauer, der nach Leipzig kam, und gemeinsam hatten er und Pohl ein traumatisches, das spätere Werk tief beeinflussendes Erlebnis: den „Endkampf“ an der Oder, wenn auch in ganz verschiedenen Einheiten und an getrennten Orten.
Wenn also nicht „Sohn, was dann? Die Antwort darauf hat Rolf Karnahl gegeben. Es könne Pohl, so schrieb er 1984, „eine Vorreiterrolle für die ‚Leipziger Schule‘ bzw. eine vollgültige Zugehörigkeit zu ihr, und zwar zu ihrer Frühzeit, nicht abgesprochen werden.“ [1] In der Tat. Die Wesenszüge, die man dieser Schule zuerkennt, etwa die Akribie im Zeichnerischen, die Nähe zur Literatur und zur Historie, einen Realismus, allegorisch oder metaphorisch gebrochen, findet man schon beim jungen Pohl, in mancher Hinsicht früher als bei den Dreien. Der „realistische Symbolismus“ war ja auch Leipziger Erbe, typisch für eine Stadt des Buches mit Max Klinger als Idol. Manch Pleißestädter ist in dieser Tradition einer vorrangig als illustratives Bildungsgut verstandenen Kunst steckengeblieben.
Nicht so Pohl. Dafür war er, ein Biermann-Typ, zu quirlig, zu querköpfig, zu interessiert am Leben, gesehen von ganz unten her. Die großen Worte vom Sozialismus imponierten ihm nur am Anfang, dann schaute er genauer hin und entdeckte, sozusagen Brecht mit Kafka verbindend, die skurrilen, absonderlichen, gespenstischen Formen des Gesellschaftlichen und die Fähigkeit der Kunst, eine noch so dräuende Macht durch Freilegung ihrer grotesken, ja komischen Züge zu entdämonisieren.
Für dergleichen Erkundungen war damals die Karl-Marx-Universität nicht die schlechteste Basis. Hans Mayer und Ernst Bloch hatte man noch nicht vertrieben, und am Institut für Kunsterziehung wirkten nicht Leute wie Magritz, Massloff und Uhlitzsch, die an der Hochschule für Graphik und Buchkunst das Zepter schwangen, sondern Hans Schulze und Elisabeth Voigt. Unter deren Schülern war Sieghard Pohl das „enfant terrible“. „Pohl wäre nicht Pohl gewesen“, so erinnerte sich Roland Richter, ein Mitstudent, „wenn er nicht schon damals für Irritation und Aufsehen gesorgt hätte.“ [2] „Macht das Fenster zu, der Pohl kommt“, habe es aus Angst vor unerwünschten Mithörern öfters geheißen.
Mit der gleichen Unbekümmertheit, die die Spielregeln der Diktatur einfach nicht einzuhalten gedachte und Anpassung verabscheute, fuhr Pohl via West-Berlin und per Bundes-Paß in die Welt hin aus. Ähnlich taten es heimlich viele, aber Pohl setzte noch eins drauf. Im Juni 1958 konnten die Besucher der Kunsthandlung Engewald seine Darstellungen der Place de la Concorde und des Hafens von Sorrent sowie andere Früchte von Pohls Reisen nach Frankreich und Italien, nach Holland und Belgien, nach Österreich und in die Schweiz betrachten; übrigens hatte im gleichen Jahr und an gleicher Stelle auch Wolfgang Mattheuer sein Ausstellungsdebüt. Die Sache mit den Reisen merkte sich die Stasi gut, und so wurde Pohl 1961 das erstemal eingelocht: wegen Paßvergehens in schwerem Fall.
Kurt Engewald muß ein mutiger Mann gewesen sein, denn schon im März 1963 stellte er den Aufmüpfigen wieder aus. Das Presse-Echo bestätigte ihn. Besonders Henry Schumann war in seiner Rezension „Balladen für das Auge“ des Lobes voll. „Glänzende Einfälle eines jungen Künstlers, der etwas wagt“ [3], schrieb er und meinte damit speziell die schnurrigen und doch nachdenklichen Illustrationen zu Münchhausen, zu Brechts Moritaten und zu Wolfgang Borcherts „Hundeblume“, in denen Schumann Anklänge an Salvador Dali erkannte, mithin Pohls Interesse am Surrealen und an verdeutlichender Verfremdung. Das eigentlich Brisante hatte Pohl dem Galeristen dann aber doch nicht zugemutet: seine Bilder zum Ungarn-Aufstand, zum „Leipziger Wahlauftrieb“ und zum eigenen Leben im Knast, betitelt z. B. „In der Menschenveredelungsanstalt“ oder a la Brecht „Glotzt nicht so romantisch!“. Diese Werke hatte er nur zu Hause aufgehängt, für Freunde, von denen einer – Pohl hat ihn nach der „Wende“ an den Pranger gestellt – sogleich zur Stasi lief; Und die kam und fand die Bilder gar nicht lustig und nahm sie, 30 an der Zahl, gleich mit, den Maler auch. Also wanderte Pohl, ein Leben wie das von Villon, wieder in den Bau, zu vier Jahren verknackt, von denen er zwei in Waldheim absaß. In diesem Zuchthaus entstanden jene Zeichnungen Pohls, die ich zu seinen besten Arbeiten zähle.
Unter den Augen der Aufseher gings nur metaphorisch, aber allein schon die Titel besagen, daß Pohl bereits dem auf der Spur war, gerade was Wolfgang Mattheuer umzutreiben begann und später auch Christa Wolf. Gemeint sind Blätter wie „Sisyphos“ oder „Kassandra“.
1965 ließ sich die DDR den Häftling Sieghard Pohl von Bonn abkaufen. Gegen Apfelsinen, pflegte Pohl zu erzählen und grinste vielsagend dabei. Inzwischen weiß man, daß die guten Produkte meist nur auf dem humanitären Papier standen; ein gewisser Devisenbeschaffer bevorzugte bares Geld. Auch im Westen sorgte Pohl für mehr Wirbel als Freude. Sein Pazifismus, am reifsten ausgedrückt in den beklemmenden „Schießscheiben“-Objekten, meinte alle Hochrüstung, nicht nur eine. Und noch etwas kam hinzu. Zwar reiste er nun um die halbe oder ganze Welt, aber den Staat seiner Alpträume vergaß er dabei nicht: Er blieb in die DDR verbissen. Vielleicht war das gar nicht gut für ihn, aber er konnte nicht anders.
Die üblichen künstlerischen Einbußen in Kauf nehmend, fing er sofort an, die von der Stasi beschlagnahmten, jetzt aber wenigstens durch deren Fotos dokumentierten frühen Werke zu replizieren. In harten neuen Bildern hielt er das Zuchthaus Waldheim weiter fest. Auch publizistisch nannte er die Dinge in der DDR beim Namen, damit zunehmend das immer heftigere Antichambrieren des Westens vor den Mächtigen des Ostens störend. Diese hatten Pohl sowieso im Blickfeld behalten. Spätestens mit dem Erscheinen des von seiner Frau Edda und ihm herausgegebenen Buches „Die ungehorsamen Maler der DDR“ (1979) war ihm die volle Aufmerksamkeit Erich Mielkes sicher. Berge von Akten der Gauck-Behörde belegen das. Am 13. Juni 1994 starb Sieghard Pohl. Ein „Malerfürst“ ist dieser Leipziger nicht geworden. Es ist auch ganz unmöglich, sich ihn, den Schelm, der tief bohrte, als einen solchen vorzustellen. Seine Freunde wollen ihm eine große Ausstellung widmen. Das ist gut und könnte helfen, den „Matthäus-Effekt“ einmal ein Schnippchen zu schlagen und den Platz des Künstlers Pohl gerechter zu fixieren. Aber das müßte auch schon wieder gegen den „Trend“ geschehen. Erneut verwischen sich in Deutschland geschichtliche Konturen. Vergessen ist angesagt, zum Nutzen der großen Akteuere des elenden Spiels von gestern. Mit der Mauer verschwindet langsam die Erinnerung an die Mauer, an das Mauerregime – und an die Kämpfer dagegen. Auch an Sieghard Pohl?

Günter Feist

Anmerkungen

1.) Katalog der Sieghard-Pohl-Ausstellung, Galerie im Fontane-Haus, Berlin Reinickendorf, 1984
2.) Typoskript der Eröffnungsrede zur Sieghard-Pohl-Ausstellung, Galerie Augen-Blick, Leipzig, 1991
3.) Sächsisches Tageblatt, Leipzig, 30.3.1963