VIP

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An diesen fernen Sommertag kann ich mich noch gut erinnern! Dieser Tag wäre längst aus meinem Gedächtnis gestoßen worden, wenn »ER« damals nicht als Leitfigur einer Pflichtveranstaltung vorgestanden hätte.
Welche Bedeutung hatte dieser graue Herr mit dem Erkennungsmerkmal der totalen Macht an seinem Revers? »ER« war der wichtigste Mann, der »Erste« an der Spitze einer Menschengemeinschaft, die er nach seiner Vorstellung prägen wollte. War »ER« ihr Spiritusrektor, Lenker, Großkophta, Pontifex maximus, Oberhaupt, Regent, Statthalter, Souverän, Dynast, Staatschef, Landesherr, Potentat, Diktator? Ein Stückchen von allen Titeln erfüllte er immer. Wenn ich von ihm weiterhin schreiben muß, will ich das Kürzel »ER« für ihn verwenden!
Ich war damals ein gehorsames Mitglied dieser Gemeinschaft, denn dieses Staatskollektiv war ein Werk ganz nach seinem Willen. »ER« und seine Satrapen hatten uns fest in ihrem Griff. Wir spielten in diesem Polittheater winzige wichtige Rollen. So auch an diesem Sommertag. Die Arbeit war getan, da wurde den Lehrern und Künstlern und anderem gehobenen Fußvolk wie stets freiwillig befohlen, ihn zu hören, seine Claqueurs zu sein. »ER« sprach gern manchmal Sätze klugen Inhaltes, nur »ER« durfte und konnte solches aussprechen, wenn’s auch nicht die Regel war. Die ihn umsorgten, waren beruflich dazu auserwählt, sein Wohlbefinden nicht stören zu lassen. Akustisches außer Beifall und Jubel war seinen Ohren nicht zuträglich. Ich fand das klug, was aus seinem Munde quoll. Hätten wir solches in der Öffentlichkeit ausgesprochen, wir wären in den Mastdarm der Republik gestürzt. Aber »ER« brachte das. Wir saßen sittsam auf den drapierten Stühlen und sahen in ein sanftes Rot; und Trommeln, violetter Widerschein beeindruckten uns.
Die Bühne, von der »ER« sprach, wurde in dauernder Bewegung gehalten; das geschah, um uns zu erfreuen. Auf ihr sangen die blauen Chöre, wenn er schwieg, und wir, die wir sie belauschten, schlugen zum Beifall die Hände über unseren Köpfen zusammen. Die Innenflächen meiner Hände röteten sich, schwollen an und schmerzten. Ich fand mich glücklich. Oh schöne Märchenstunde und »ER« in diesen Augenblicken, ganz sein eigener Monarch, verkündigte weiter. Was er sprach, so schien es mir, war humorvoll — wenige Drohungen, viel Väterliches besänftigte. Doch manchmal kam es mir vor, als spräche »ER« von Dingen, an die »ER« selbst so recht nicht glauben konnte. Der Großkophta stieg in die einsetzenden Ovationen wie in ein Bad voller Wohlbefinden, und seine Rede wurde immer illusionärer. Wir wollten sowas hören. Doch als der Rhythmus der klatschenden und skandierenden Menge besonders laut tönte, die Sprechchöre heftig jubelten, daß der Saal zu bersten schien, verfingen sich plötzlich meine Gedanken in der Vergangenheit. Es waren die häßlichen Wegmarken der Erinnerung, die mich zurückzwangen. Denn der Sommertag, der nun langsam zum Nachmittag hin reifte, erinnerte mich an ein anderes Zeitgeschehen, viele Jahre während einer großen europäischen Katastrophe. Der Ort war L. Hier zelebrierte »ER« gerade sein Spektakel. L., die wundgeschlagene Stadt, hatte mich eingefangen. Viele klaubten wie ich damals im Schutt.
Also, als unser maximo lider weiter so schöne Worte fand, schwammen meine Gedanken zurück in die letzten Jahre des Krieges; es war der Beifall, der meinen Ohren Pein bereitete, damals wie jetzt, und ich erinnerte mich, ähnliche Entzückungen schon einmal wahrgenommen zu haben. Diese Mischung aus militantem Stampfen und sich selbst überschätzendem Frohmut … Nun Volk steh auf, und Sturm … Die damalige Radiostimme in der Soldatenbaracke war ekelhaft — so weiß und empfinde ich es heute, da mir das spätere Zeitgeschehen einen besseren Durchblick verschaffte. Die Stimme, die mich an diesem Sommernachmittag beschallte, war dagegen nicht unangenehm, ihr Klang wirkte belustigend. Dieses Fisteltimbre offenbarte menschliche Unzulänglichkeit, sich als energisch darzustellen — zugegeben, das war nur mein Eindruck. Doch dieser Beifall, dieser verdammte Beifall, der schlug auf meine Hautnerven, traf nicht nur meine Ohren. Mit meiner früheren Erinnerung waren die heutigen Ovationen deckungsgleich. Diese vielen hochgereckten Arme um mich, die sich mir fast in die Nase bohrten, dieser Wald aus vielen Fingern und Fäusten, dieses schreckliche Entzücken — nein, wenn es jetzt nur nicht so wäre, es wäre vielleicht anders als damals.
Solche Vergleiche hielten sich nicht lange im Käfig-Kopf! Geschichte kann sich nicht wiederholen.
Weiter rieselte diese Stimme in unsere Köpfe. Garanten des Fortschritts der Menscheit wurden die Anwesenden genannt. Wir waren aufgewertet. »ER« dort oben und wir da unten — fast eine Kampfgemeinschaft, aber nur fast, denn die Bühne war erhöht und in den ersten Reihen sichtbar die Trennungslinie — gebildet aus stillen, kaum Beifall spendenden Händen, kräftigen Rücken und Muskelbändern. Die hatte auch Augen. Aber ja doch, »ER« war bei uns — die Bannmeile stand ihm zu — nahm sich Zeit für uns. Wir waren dafür die Auserwählten einer großen Stadt im Sommer. Er brauchte uns schließlich, um ganz »ER« zu sein. Ohne unser Entzücken wäre er eine Null gewesen! Ritus, immer wieder dieser eingebleute Ritus — diese abgehobene Herrschersprache eines vergangenen Jahrhunderts. Eine Fahne bleibt schlicht eine Fahne — hier wird sie zum hehren Banner — ein Verein, eine Partei wird zur Avantgarde der Menschheit. Uns trug solche Anmaßung in die unbekannten Höhen frenetischen Jubels. Wir bemerkten auch, die Bejubelten klatschten mühselig nach unten.
Dann brach die Pause aus.
Der Saal war stickig geworden, der Schweißdunst hing unter der Decke. Die Blasen drückten, die Kehlen sehnten sich nach Bier. Der Saal leerte sich durch die aufgestoßenen Türen in den Park. Ein Menschenbandwurm suchte den Tresen im Vorraum.
Dort bildeten sich Stauungen. Ich aber hatte andere Bedürfnisse, die immer heftiger wurden, und so begann ich zu drängen, suchte Hinweise und fand sie. Auf Bühnenhöhe bemerkte ich, daß der Abgang dort geregelter verlief. Die Masse Mensch, das Volk, blieb beim Drange zum Pinkeln von den Oberen getrennt. Doch wurde ich zufällig, auch von mir selbst unbemerkt, einer der ihrigen.
Ich hatte wohl heftiger als andere mein Ziel verfolgt, den gewissen Raum zu finden. So wurde ich Sieger, ohne auf weitere eilige Mitmenschen zu stoßen, fand eine leere Toilette — fast leere. Stellte mich vor das Pißbecken, um mich zu entleeren. Das dauert, selbst bei leichter Sommerkleidung und voller Blase, so seine Zeit, so kam Langeweile auf, weil alles gerichtet schien — die Erlösung hatte begonnen, da gewahrte ich den Nachbarn am zweiten Becken. Wir schauten uns tief und voller Erstaunen in die Augen. Er kannte mich bestimmt nicht — ich erkannte ihn. Es war »ER«! Wohin meinen Blick jetzt wenden? Die Auswahl schien sich auf zwei erregende Punkte zu fixieren: 1. Seine wässrigen, verdutzt dreinblickenden Augen unter der Brille, über die sie hinwegschauten! 2. Des alten Mannes »Pippizapf«! Mochte er gleichen Blickzwängen unterliegen? Zuerst in die braunen Augen des Mitpissers, den er aus Sicherheitsgründen eigentlich kennen mußte? Oder der zwanghafte Blick auf einen Jungpenis, der sein Wasser besser lassen konnte als »ER«? So einen schönen kräftigen Bogen in die Schale setzen können! Man kennt ja die späten Leiden später Männer — an solche hatte ich nicht gedacht, war auch abwegig damals —, und doch fiel mir der schüttere Strahl, der so jäh abfiel, und sein heftiges Schütteln auf. Heute, Jahrzehnte später, selbst ein von solchem Leiden Heimgesuchter, habe ich ein ehrliches Mitempfinden. Obwohl bei ihm mehr Neid als Anerkennung im Spiel sein mochte, als er mir doch — ich hatte diesen kurzen Blick als einen Seitenhieb fast körperlich gespürt — aufs ansehnliche Glied schaute! Bald hatte ich den direkten Augenkontakt vermieden — kam etwa Angst auf, ihn in dieser Situation angemessen grüßen zu müssen? Wäre mir peinlich gewesen, und wie hätte ich das vollbringen sollen!? Noch während seiner Rede hatte ich mein Soll an Jubel übererfüllt, meine Hände immer wieder über meinen Kopf zusammengeschlagen. Ob das hier passend gewesen wäre, solcherart Beifall? Was alles Unangenehme mir dabei hätte geschehen können mitten beim Wasserlassen! Ohne rechte Fixierung durch eine Hand hätte das Glied seine Richtungshalterung verloren; man bedenke, das rhythmische Klatschen hätte es undiszipliniert herumhüpfen lassen, ja. Es wäre nicht auszuschließen gewesen, daß ich den berühmten Nachbarn bespritzt hätte. Große Peinlichkeit, unangenehme Entschuldigungen wären die Folge gewesen. Und »ER«, ein Mann, um Volksnähe bemüht, hätte er mich nicht auch wieder grüßen müssen? Die Vorstellung, beide wären sich halbzuwendend, leicht hüpfend, in eine Begrüßungsorgie verfallen, war nicht auszudenken — wie das bei seinem faden Strahl? Ich wollte ihm eine feuchte Hose ersparen. Also schaute ich gesenkten Hauptes verstohlen auf sein »Ding« — das mußte ich nicht grüßen — doch was ich erspähen konnte, war, ich erahnte mehr die vielen schrumpeligen Ringfalten, einem geriffelten Staubsaugerschlauch ähnlich, nur nicht so lang, beileibe viel kürzer,
kaum zu erblicken. Plötzlich schien »ER« sich zu schämen, denn er schirmte es mit aufgefächerten Händen recht geschickt ab. Blackout!
Nun endlich konnte ich wieder an anderes denken, denn mein Blaseninhalt neigte sich seinem Ende zu. So fiel mir auf, daß wir schon geraume Zeit in der gekachelten Sanitärzelle verbrachten. Wunderlich, wo doch so viel blasengeplagtes niederes Volk eben noch drängend die Örtchen suchte. Plötzlich wurde mir klar: Du bist hier illegal mit ihm! Solche Größen haben Bodyguards! Natürlich!
Ich war ein viel zu schmächtiger Hänfling, als daß ich ein solch Auserwählter hätte sein können. Das mußte »ER« auch bemerkt haben. Unsere Köpfe wendeten sich nun endgültig voneinander ab. Jeder schien gewisse Konsequenzen durchzuspielen. Plötzlich war ich in eine revolutionäre Situation gekommen. Verdammt noch mal! Welche unloyalen Gedanken schlichen sich da in meinen Kopf ein! Nein, nein, nochmals nein, von wegen Taschenmesser aufklappen! Sowas überhaupt weiterdenken zu wollen! Andererseits, welche Fügung, welche Sternstunde für einen Revolutionär! Ich dachte gleich an Charlotte Corday, Karl Sand und andere. Hatte nicht sogar Lenins Bruder …? Doch ich war nicht so einer, schämte mich solcher Gedanken und freute mich für meinen berühmten »Toilettengenossen«, daß ich so loyal war. Hier muß ich einschränken, so ganz lupenrein loyal war ich eigentlich nicht, ein klitzekleinwenig war ich manchmal schon ärgerlich; so manchem Ukas der Oberen widersprach ich innerlich. Aber immer wieder traten die staatlichen »Aufrichter«, die Nothelfer in Aktion und erteilten Zuspruch: »Wo gehobelt wird, da fallen Späne!« Das half dann. Es waren halt die Späne, die leicht wegzublasenden. Dagegen stimmte die ganz große Sache und ihre Helden. Lassen wird das.
Irgendwann endete diese vermeintliche »Sternstunde« im Abort. Es ging nur noch darum, daß wir beide die Kleider richteten. Da ich nicht zuerst die Toilette verlassen wollte — das hatte gute Gründe —, täuschte ich eine Panne am Reißverschluß vor. »ER« hatte es mit seinen Knöpfen leichter. Doch warum wollte ich damals nicht vor ihm wieder raus? Ich handelte nach der Devise »very important persons first!«
Denn man versetze sich in die Gedanken der Bodyguards draußen vor der Tür. Ich trete als erster durch die Tür dieses abgeschotteten Raumes, aus dem ich gar nicht hätte treten dürfen, einfach weil es mich nicht geben durfte. VIP bleibt drinnen! Hatte man etwa einen unterdrückten Schrei überhört? Was hätten sie denken und dann tun müssen? Diese schreckliche Ungewißheit! VIP in einer Blutlache? Röchelt VIP? Möglicherweise hätten sie mich vorsorglich festnehmen, sogar unschädlich machen müssen. Ich spürte den Bruch meiner Kinnlade, kaute auf Gummizähnen. Gott sei Dank, dazu kam es nicht, weil ich erst nach ihm die Toilette verließ. Da hättet ihr die Blicke der kräftigen Leute sehen sollen! Totale Ungläubigkeit, erstauntes gegenseitiges Anschauen. Wie kam es zu diesem Lapsus?
Ich aber kümmerte mich nicht mehr sonderlich um dieses Geschehnis, trabte sofort in den Park, Freunde zu treffen. Einen Erlebnisbericht gab ich nicht. So erwarteten wir den zweiten Teil der Rede, und bald bewegten sich wieder die Menschenlindwürmer zurück in den Saal. Der Laichplatz der Prominenz auf dem Bühnenraum füllte sich wieder. Am langen Tisch auf der Bühne, der mit einem bekannten Fahnentuch schön drapiert war, nahmen die Hechte Platz. Der I-Minister, der A-Minister, und natürlich der V-Minister im Ordepornat. »ER« tritt im »Rauschen des Saales« auf die Bühne vors Mikro am Stehpult. Ritualer Beifall brandet wieder auf. »ER« spricht, ab und zu wird »ER« von rasenden Ovationen unterbrochen. Aber solchen Ablauf habe ich ja schon beschrieben. Die Berufsschmeichler sind unermüdlich!
Auf den Heimweg habe ich mich danach begeben. War ich doch wieder auf dem Pfad der Übereinstimmung.
Heute weiß ich, daß ich einen bedenklichen Fehler gemacht habe, diese Begebenheit zu verdrängen. Es sollte Folgen haben. Kleine Ungehorsamkeiten, die später von mir begangen wurden, kamen in die zentrale Registratur. Knapp drei Jahre später saß ich im Fangeisen. Die starken Männer hatten mir ihren Fehler nicht vergessen, sie waren sehr nachtragend. Ich glaube, ich bin sogar fest davon überzeugt, daß die damaligen Vorkommnisse das Ende meiner Laufbahn als Staatsbürger einleiteten. Damals, an diesem schönen Sommerabend — ich hab’s nicht bemerkt —, sind sie mir bestimmt nachgeschlichen, saßen als unerkannte Mitfahrer neben mir in der Straßenbahn oder hockten als Claqueure nach der Pause im Saal unmittelbar in meiner Nähe. Bestimmt hatten sie heimlich Fotos von mir geschossen. Als ich dann vor meiner Haustür in der Vorstadt stand, haben sie gewußt, wer ich bin. Nun saß ich im Räderwerk, und es ging seinen Gang. Sie haben dann meinen Abgang sorgfältig konstruiert, mit irgendwelchen Tatsachen angereichert. Man kann sagen, sie waren sehr effektiv.