Die Haut der damals Mächtigen war löchrig geworden, aber der Feldherrenhügel war noch gut besetzt mit stolzen Trägern roter Biesen, die letzte Befehle an ihr tumbes Schlachtvieh erteilten.
Im Februar 1945 war es dann so weit, wir hatten die Kasernen in Lübeck zu verlassen. Eingerüstet und behängen mit schepperndem Blech und Eisen, wie Spaten, Gasmaskenbüchse, Kochgeschirr, Knarre, Bajonett, Stahlhelm betraten wir die bereitgestellten Güterwaggons. Es galt, das blutige Loch zu stopfen, das die Winteroffensive der Roten Armee in die deutsche Front gerissen hatte. Ich weiß nicht mehr, was ich in jenen Tagen dachte, welche Gefühle sich in mir aufstauten. Heldentaten standen bei den Herrschenden hoch im Kurs — Überlebenstaten zu vollbringen war den meisten Soldaten wichtiger, wenn sie davonkommen wollten.
Nach Tagen das erste Dorf im Bereich der Feuerwalze, die vor uns die Landschaft zerhackte. Ab und zu fielen die Irrläufer, die streunenden Hunde der schweren Artillerie, vom Himmel, um die Peripherie des Schlachtfeldes zu beunruhigen. Diese Ansiedlung war als Ausgangspunkt für die neuankommenden Reserven bestimmt worden. Ein Ort, der nicht immer eine Rückkehr garantierte. Da standen wir herum — die noch Ungebeutelten.
Zu meiner militärischen Ausrüstung wollte er so gar nicht passen, jener rotbraune Damenkoffer, den ich hier, in diesem Augenblick noch in meiner rechten Hand hielt. Den hatte mir meine Mutter noch im letzten Jahr mitgegeben, als ich einberufen wurde. Diesen schönen, doch unpassenden Koffer hatte ich vollgepackt mit den Resten meines einstigen zivilen Daseins. Bisher war es mir immer noch gelungen, dieses unmilitärische Behältnis nicht aufgeben zu müssen. Doch jetzt stand ein Befehl dagegen! »Ablegen all der zum Kampf unnützen Dinge«. In einem Keller eines alten Bauernhauses sah ich ihn liegen, zuletzt als hellbraunen Farbfleck in der Masse grauer Gepäckstücke, von denen viele inzwischen herrenlos geworden waren. Ungern hatte ich ihn schon abgelegt! Als ich wieder auf dem Dorfplatz zu meiner militärischen Formation fand, ahnte ich, daß ich wichtige Erinnerungen im Stich lassen mußte. Doch die Nähe der Front, das Ungeheuerliche der kommenden Stunden vertrieb bald jegliche Sentimentalität aus meinen Gedanken. So standen oder saßen wir, in lose Gruppen aufgeteilt, und warteten auf den Abmarsch, lauschten den fernen Paukenschlägen. Dieser frühe, kalte Februarmorgen hatte die schlammige Straße des Vortages steinhart gefrieren lassen. Über diesen Weg kroch schemenhaft ein von einem Ochsen gezogener offener Leiterwagen, der mit einer für mich vorerst undefinierbaren starren Last bis zum Rand aufgefüllt war. Geführt wurde dieser seltsame Karren von einer vermummten Gestalt, die gemächlich neben dem müden Zugtier einhertrottete. Der Wagen schien kein Ziel zu haben, bis er plötzlich den Weg zum nahen Dorffriedhof einschlug.
Bis auf die ferne Schlacht, die da am Horizont tobte, schien das Dorf in eine Art Totenstarre verfallen zu sein. Nichts war, was dem Auge Lebendiges bot, nur der feuchte Atem, der den wartenden Soldaten aus den Mündern fror, zeigte Leben an. So blieben unsere Augen an dieses Gefährt gefesselt, das aus dem fernen Dunst rumpelnd aufgetaucht war. Erst aus der Nähe konnten wir die seltsame Last erkennen, die ihm aufgeladen war: starre, verkrampfte Hände, nackte Füße, an denen gefrorene Fußlappen klebten, ragten zwischen den Sprossen des Heuwagens heraus, dazwischen geschichtet unwirklich abgeknickte Köpfe, blessierte Leiber, alles steinhart gefroren. Es wurde ein Überangebot menschlicher Körper sichtbar, verknotet, verhakt zu einem grotesken Riesenbündel. Das fuhr nun durch das Tor zum Gottesacker und wurde dort abgekippt. Ohne Stiefel, barfuß all die Leblosen. Das abgenommene Schuhwerk dieser Elenden trugen nun andere, die möglichen Aspiranten für spätere Fuhren? Kaum daß diese schreckliche Wagenfüllung abgelegt worden war, traten Männer aus einer Dorfhütte, bewegten sich zum Friedhof, hauchten sich den lauen Atem in ihre schwieligen Hände, griffen zu Spitzhacke und anderem Eisengerät und begannen damit auf die harte Erde einzuschlagen, um eine lange Erdöffnung zu schaffen. — Das Entsetzen hatte uns befallen. — Unser Leutnant mochte wohl Mitleid mit uns armen Teufeln gehabt haben, wollte uns eine solche Einstimmung ersparen und ließ uns vorzeitig den Marsch zu den vorderen Linien antreten. Dieser war erst für den zeitigen Abend geplant gewesen, wenn die Dunkelheit das Land überfiel. — Noch geraume Zeit hörten wir das Schlagen und Klirren der Arbeitsgeräte, die polnische Fremdarbeiter so eifrig bedienten, um die Erde aufzubrechen, um ihre Feinde zu verscharren. Sie werden ungeduldig auf weitere Fuhren gewartet haben.
Das immer lauter werdende Grollen der nahen Front überdeckte bald diese rückwärtigen makabren Geräusche, je tiefer wir in das Menschengemetzel einzutauchen hatten.
Wochen eines Frontschweines folgten. Manchen Karren, ähnlich dem soeben beschriebenen, hatte ich in folgenden Nächten mit Teilen und Resten junger Soldatenkörper zu beladen, nachdem wir eben erst die Behälter mit den lauen Suppen entladen und hastig ausgelöffelt hatten, zurückwuchteten, um volle Munitionskisten gegen leere auszutauschen. Es taten sich immer wieder Lücken auf, in die wir das so reichlich anfallende leblose Menschenfleisch stapeln konnten. Ein zottiges Pferdchen war vor diesen Leiterwagen gebunden, das den Weg aus der Nacht allein zurückfand, wenn man es mit einem liebevollen Klaps auf den Rückweg schickte, in der Nacht vom 13. zum 14.3.45, sie war milder als sonst, spürten wir den nicht mehr allzufernen Frühling; verkrochen uns in die Betonröhre eines Chausseedammes. Wir, die Restbedienung dreier Granatwerfer, suchten Schutz vor dem Streufeuer russischer Batterien. So vermeintlich behütet, fielen wir alle vor Erschöpfung in Tiefschlaf. Ein Posten im kreisrunden Erdloch der Stellung verblieb im Freien, um in unterschiedlichen Zeitabständen einige Granaten in den Schlund eines Werfers zu stopfen.
Die Vision einer gigantischen Katastrophe drückte mich heftig durch die Schlafbewußtlosigkeit zurück in die Diesseitigkeit. Ich öffnete die Augen in ein schwarzes Loch, vernahm einen gewaltigen Glockenschlag, der mein Ohr nicht mehr verließ, nicht mehr ausklang, eher schmerzhaft ausschwoll. Alle bisher bekannten Geräusche erreichten nicht mehr das Hörzentrum. Gar nichts schien mehr an mir zu funktionieren. War es denn noch die ersehnte Diesseitigkeit, die ich gewahrte? Nur Geschmack und Geruch waren verblieben, gaben mir die notwendigen Orientierungshilfen. Partikel aufgewirbelten Staubes erfüllten Nasen- und Rachenraum, verbrannter Pulverqualm kroch zu den Schleimhäuten hoch, bewirkte einen rasenden Brech- und Hustenreiz, der mir wenigstens den Druckschmerz von den Trommelfellen nahm. Ich verblieb in einer Art Schreckstarre, versuchte das gestörte Gleichgewicht zu ordnen, zu ergründen, warum der klirrende Klang einer Glocke, der mich so peinvoll quälte, nicht enden wollte. Es mochte mich ein zeitweiser Hörsturz befallen haben. Ein Rinnsal spürte ich, das mir in Augen und Mund lief. Meine rechte Hand tastete sich in mein Gesicht vor, spürte den Nasenrücken entlang, fand dort einen kleinen, aber stark blutenden Riß. Jetzt erst gelang es mir erschrocken, meinen Zustand voll wahrzunehmen. Was vorher unbeweglich, starr, an meinem Körper fast angeschraubt schien, ließ sich jetzt lösen — Arme, Beine, das menschliche Greif- und Schreitzubehör wurde beweglich. Mühsam rollte ich mich aus der staubigen finsteren Röhre in die klare Nacht. Beim Schein der Taschenlampe später, mit heruntergelassener Hose, wußte ich, daß wir dem Schlachten vorläufig entkommen waren. Eine Granate hatte uns außer Gefecht gesetzt, so lapidar militärisch pflegte man sich damals auszudrücken. Zwei Eisensplitter waren in meine Kniegelenke eingedrungen, andere hatten die linke Hand und meine Nase beschädigt. Der Dauerglockenton schmerzte weiterhin in meinen Ohren, er sollte den Abgang einläuten.
Der schwierige Abtransport bis unter das Messer eines Feldarztes soll hier unbeschrieben bleiben. Hilfreich war auch diesmal unser zottiges Pferdchen, das so selbständig die Wege ins Hinterland finden konnte. Vor dem Zelt des Hauptverbandsplatzes blieb es stehen, wartete bis wir auf die Bahren geschnallt wurden.
Ein schönes Frauengesicht beugte sich über mich, tröstete mich, den Schmutzverkrusteten. Die junge Schwester schabte mir die Haare von den Beinen, spürte Venen und Muskelpartien auf, um mir die obligaten Spritzen zu verabreichen. Noch eh ich das Bewußtsein zu verlieren begann, setzte der Stabsarzt, in blutverschmierter Schürze, sein Skalpell an, um mein Kniegelenk aufzuschneiden. Die sanfte Schwester half mir eilig mit einigen Tropfen Äther, aus der Besinnung zu kommen. In mir brach die Zeit wirrer Träume an, die sich zeitweise im Strudel tieffallenden Bewußtseins verloren. Immer wieder eröffneten sich neue Ebenen, die den Schatten des Todes zu streifen schienen, gegen die das betäubte Ich ankämpfte, um aufzutauchen — zu überleben. Dann wieder die Fäden abgebrochener Träume, aufgenommen und weitergesponnen, bis sie sich der Grenze des Wachwerdens näherten — doch plötzlich wieder der schöne Abgrund, der sich auftat, das Spiel zum Auf und Nieder, bis die jenseitigen Phänomene immer betörender, berauschender und endlos erschreckender wurden — der letzte Traum, er blieb in Resten bis heute in meiner Erinnerung. Der Traum:
Das schöne Spiel des lustvollen Nichtstuns, das ich durchlebte, war in eine elysische Landschaft verlegt. Dort lag ich, aller Erdenschwere enthoben, in einer wasserreichen Landschaft und schaute gedankenverloren über kräftig grüne, blumenreiche Wiesen hinweg. In diesem weitausschwingenden Garten Eden standen einzelne mächtige Bäume — Solitäre. Seltsamerweise war ich nur fähig, Dinge zu erschauen — Nachdenken über diese Erscheinungen war mir verwehrt. Ich erspürte einen totalen Zeitverfall.
Nahe meinen Füßen gewahrte ich ein sanft dahinfließendes Wasser, einen kleinen Fluß. Auf ihm dümpelten viele Ruderboote, mit altertümlichen Sitzlehnen am Heck. Darin räkelten sich Krankenschwestern, die sich ihre Rotkreuzhäubchen aufgesteckt hatten, bewegten überlange Ruder, die sie besonders langsam in die silberhelle Wasseroberfläche tauchten. Die hier versammelten Schwestern waren alle mit einem mir wohlbekannten Gesicht ausgestattet. Ich sah in den Gesichtzügen der Frauen die schönen Augen des Mädchens, das sich eben über mich gebeugt und getröstet hatte. Da berührte der Bug eines Kahnes meine Füße die hingestreckt am Wasser lagen. Über mich fiel ein langer blauer Schatten, der sich neben mich legte, sich sanft öffnete, meinen Kopf in die weiche Fülle menschlichen Fleisches legte. Ich spürte die Sattheit völligen Geborgenseins, rhythmisches Wiegen vervollständigte mein Wohlbefinden. Doch dieser Zustand sollte jäh gestört werden. Eine kontinuierliche Folge harter Stöße beunruhigte mich, schmerzhaft durchschlugen sie das schöne Gefühl zärtlichen Wiegens, immer heftiger, lauter.
Der Himmel meiner vordem elysischen Landschaft färbte sich brandrot. Über den Horizont der lieblichen Wiesenlandschaft ergossen sich zähflüssige Schlammassen, die mit ihren langen Zungen nach mir leckten. Schon fühlte ich mich hart umschlossen, gehindert an jeder Flucht. Beim Versuch, meine Extremitäten aus der Zähflüssigkeit zu ziehen, um endlich zu entkommen, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß sie sich immer weiter von meinem Torso entfernten. Lange, dünne Fäden blieben als letzte Verbindung zum Restkörper. So wie ein Kind sich einen weichgekauten Kaugummi von den Zähnen zieht, bis zwischen Finger und Mund der Faden durchhängt und schließlich reißt — so erlebte ich den Verlust meiner Glieder im Schlamm meiner Traumkatastrophe. Der Kopf war mir noch geblieben, doch der sträubte sich gegen das Versinken. Geöffnet das Maul, gleich einem Fisch, der aus seinem Lebenselement geworfen wurde, schnappte ich nach einem Elixier, das mir der nahe Fluß in Form von roten Tropfen spendete. Diese stetig tropfende Flüssigkeit wurde von mir gierig aufgesogen — es schien der Stoff zu sein, der mich am Leben erhielt. Ich spürte, wie meine Zunge nach diesem Saft züngelte, um ihn aufzuschlecken; nie durfte er versiegen, dieser zaghaft fließende Lebensstrom. Der Zustand beengender Angst hätte ewig währen können, wenn mich nicht diese penetranten Stöße so gepeinigt hätten, daß selbst mein zeitweise versunkenes Ich daran verzweifelte und die Traumgrenze, jenes dünne Häutchen zur Wirklichkeit durchstieß. Das Bewußtsein hatte sich wieder erfolgreich in mein Gehirn eingehakt. Erschöpft, noch ohne Orientierung, waren meine Gedanken vorerst ungeregelt, bis sich richtige Konstellationen ergaben, die es mir endlich ermöglichten, mich zurechtzufinden. Diese harten Stöße, die solche traumatischen Wirkungen hatten, entpuppten sich als das regelmäßige Schlagen ungenügend gefederter Eisenräder eines Güterzuges auf die Verbindung der Bahnschienen. Im Kasten eines geschlossenen Transportwaggons, abgelegt in der unteren Etage eines roh zusammengezimmerten Doppelstockbettes, fand ich zu mir selbst zurück.
Die Augen waren, bedingt durch meine Rückenlage, starr auf das Bett über mir gerichtet; dort hatte sich ein roter, großer Fleck an der Unterseite des gestopften Strohsackes gebildet. Stetig tropfte aus diesem eine rote Flüssigkeit auf den Gesichtsbereich meines halbgeöffneten Mundes, von dort weiter in den Verdauungstrakt meines Körpers. Eine unfreiwillige, schreckliche Nährmutter hatte sich über mir aufgetan. Da lag über mir ein sterbender Soldat, dem das Leben langsam auslief. Ein archaisches Blutopfer hatte mich erreicht. Der Versuch, mich dieser Blutspende vorerst zu entziehen, mißlang. Denn mein Corpus, die Beine waren nach der Operation in ein Gipskorsett eingegossen worden, das mich nun hinderte, eine andere Bettlage einzunehmen. Erst unter großen Mühen gelang es mir, den Kopf etwas aus der Richtung des Blutstromes zu drehen. Kraft und Konzentration schwanden dahin — ich dämmerte zurück in die Sphäre der Erschöpfung, begleitet vom anhaltenden Stöhnen meiner zerfleischten Mitreisenden auf Abruf.