Söhnchen ersteigt den Kalvarienberg

Söhnchen ersteigt den Kalvarienberg

Das Söhnchen hatte einige Schwierigkeiten, die für ihn zu steile Bergkuppe schnellen Schrittes ersteigen zu müssen. Die Sommerhitze trieb den Schweiß auf seine kleine Stirn, dieser durchfeuchtete zunehmend seinen struppigen Haarschopf. Wie es nur seine kleinen Stöckelbeinchen artgerecht über die hohen, ungeschlachten Steinstufen hinwegsetzen könnte, ohne sich dabei jedesmal mit den Knien an die Kinnlade stoßen zu müssen, bereitete ihm unsägliche Mühen. Solche harten Stöße ereigneten sich immer dann, wenn es, um Gleichgewicht ringend, seinen kleinen Oberkörper besonders tief krümmen mußte. Denn gerade in solchen Augenblicken hatte es eines seiner beiden Kniegelenke besonders hoch anzuwinkeln, um die für es zu mächtige Steintreppe bewältigen zu können. Das waren dann oft die ekelhaften Berührungspunkte mit den kurzzeitigen Betäubungseffekten, unter denen auch Söhnchens Milchzähne zu leiden hatten.
Die hohen Steinstufen waren — Gott sei Dank! — nicht eng aneinandergereiht angelegt, dazwischen lag ein größeres Stückchen groben Schotterweges, ehe man sich wieder einer solchen alpinen Barriere näherte.
Söhnchen blinzelte schräg in die Sonne und hielt sich besonders fest an dem Führungsarm seines aufrecht schreitenden Vaters, damit es sich besser an ihm hochziehen konnte. Diese beiden unterschiedlich großen Gestalten standen schwarz im Gegenlicht der Sonne, die über der Bergkuppe des Kalvarienberges aufgezogen war. Diese Kuppe war gegen Söhnchens Willen zu ersteigen. Das hätte lieber seine kleinen Beine durch den Rahmen des väterlichen Fahrrades gesteckt, um so eigentümliche Fahrversuche auf Waldwegen zu unternehmen, denn seine kurzen Beine mit dem schmalen Gesäß erreichten noch nicht den zu hoch angeschraubten Herrensattel. Nach solchem Tun stand Söhnchens Sinn, aber Vater nahm darauf keine Rücksichten, der brauchte einen kleinen Trabanten für Kurzweil und Belehrungen.
So hing Söhnchen fest am Führungsarm seines naturverbundenen Vaters wie ein Fischlein an den Tentakeln einer Krake.
Ab und zu blieben beide vor sonderbaren Bildstöcken stehen. Söhnchens Augen gewahrten die erbärmliche Gestalt eines Mannes, der sich unter Blut und Tränen abmühte, einen schweren Holzbalken eine Anhöhe hochzuschleppen. Das Keuchen des steinernen Mannes glaubte es fast zu hören. Solches Leiden konnte es richtig nachfühlen. Söhnchens Unbill wurde noch durch unsachgemäße Kleidung verschärft. Es war die Zeit, als viele jüngere Brüder die I losen, Hemden und Schuhe ihrer älteren Brüder aufzutragen hatten. Söhnchens Bruder war reichlich Jahre älter und mochte einige Kleidungsstücke besonders ungern. Eines dieser berüchtigten Be-kleidungen war in seinen Augen ein Bleyle-Strickanzug in der Art von wollenen Frauenschlüpfern, wie er sich verächtlich auszudrücken pflegte. Mutters Modetrend fand nicht seine Zustimmung und so wurden oftens Familiendramen aufgeführt, die Söhnchen interessiert beobachtete. Das Wort »Schlüpfer« verankerte sich tief in seiner Seele und schürte frühe Ablehnung gegen dieses gestrickte Kleidungsstück, das er noch nicht tragen mußte — noch nicht! Des großen Bruders Zetereien hatten endlich Erfolg, zumal jener stürmisch heranwuchs, verschwand es schließlich im Kleiderschrank und wartete dort in der Dunkelheit auf eine neue Auferstehung. Der Tag reifte unerbittlich heran. Eines Morgens wurden Söhnchen diese Strickkleider angepaßt — der große Bruder stand dabei mit I Ihme, während sich der Kleinere wütend Tränen aus den Augen quetschte.
Söhnchen war körperlich etwas zurückgeblieben ausgefallen. Eine obligate Rachitis hatte ihn früh befallen, so plagten ihn besonders dürre und säbelkrumme Beine. Um diese wieder auf ein rankes Ebenmaß zu richten, erhielt er Bestrahlungen und mußte löffelweise Lebertran schlucken. Eine Adonisgestalt wurde Söhnchen später nie zuteil, aber immerhin wuchs er befriedigend aus.
Söhnchens Bekleidung am Tage der Kalvarienbergersteigung bei Albendorf war eben jener beschriebene schreckliche Bleyle-Strickanzug, der auch noch etwas zu groß an ihm ausfiel. Unter dieser wärmenden Bekleidung entfaltete sich die Sommerhitze besonders gut, und die gar nicht weiche Schmusewolle rieb zwischen den Beinen schöne, große, rote Flecken.
In der Berg- und Waldeinsamkeit (damals kannte man noch keine mobilen Touristen, höchstens einsame Sommerfrischler) — in der Berg und Waldeinsamkeit begegnete es keinen gleichaltrigen Buben oder Mädchen, die es in Schlüpfern den Bergweg belaufen sahen. Nur Waldbäume säumten den Pfad, die konnten es ja nicht auslachen. Söhnchens Grundstimmung wurde noch durch übergroße Bundschuhe vergiftet, die an seinen Füßen schlotterten. Durch eine Überzahl an Einlegesohlen hatte Vater sie grademal so präpariert, daß sie ihm nicht von den Beinen fielen. Ob S. wollte oder nicht, es entwickelte einen aufrechten Stolpergang, der es zwang, besonders weit ausholend über den großen Onkel zu laufen.
Vater mußte doch bemerken, daß er einen Troglodyten am Arme hielt. Der Sinn eines solchen Wortes lag außerhalb Söhnchens Sprachschatzes — dieser Begriff ist eine Hinzufügung des späten Selbstbeschreibers. Daß S. solche Kleidungsstücke gegen seinen Willen zu tragen hatte — viel lieber wäre es in eine kurze Jungenhose mit Leibriemen geschlüpft, hätte fesche weiße Kniestrümpfe getragen — wurde mit Geldmangel und Sparsamkeit erklärt. Basta! Unterstützt wurden solche Anweisungen dadurch, daß Vater voller Stolz ein Paar Schuhe hervorkramte, die er schon 7 Jahre ohne Besohlung trage. Auch ein unmodischer Anzug mußte herhalten; wie eine Reliquie wurde er stets ausgebreitet mit dem Hinweis, daß er diesen vor 20 Jahren in Prag gekauft habe und ihn noch einmal 20 Jahre tragen werde.
Heute weiß das gealterte Söhnchen, daß, wenn Vater ein Methusalem gewesen wäre, seine Geburt ins 18. Jahrhundert gefallen wäre, er bis zu seinem späten Tode im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts einen Dreispitz getragen hätte. Die ausgebreitete Kleidungsreliquie wäre dann eine braune Kniebundhose gewesen. »Vor ca. 200 Jahren, nach der Schlacht bei Kolin, habe ich mir die Hose in Prag gekauft«, würde er gesagt haben.
Inzwischen war der ungeliebte Kalvarienberg erstiegen. Da hing auch wieder der arme Mann aus Stein schmählich am Holzbalken und blickte traurig auf S. herab. Zwei wilde Kumpane waren ebenfalls an Kreuze gebunden und verrenkten schröcklich ihre Glieder – Söhnchens Seele schwankte zwischen Mitleid und Furcht.
S. und V. legten sich vorerst ins Gras, um zu verschnaufen, ehe sie et was später eine kleine Kapelle betraten und schließlich vor einer eisernen Tür eines Anbaues standen. Ein Zugdraht am Tor war mit einer frei schwingenden Glocke verbunden. Söhnchen erhielt die Anweisung, kräftig daran zu ziehen. Es tat es mit Wollust.
Es dauerte seine Zeit, bis tapsende Schlurfgeräusche hörbar und ein Riegel zurückgestoßen wurde. Bei geöffnetem Tore schaute Söhnchen verdutzt in das bärtige Gesicht eines braunen Kuttenträgers. Es gab eine katholische Begrüßung, ehe das Zweier-Familiengespann den schwach illuminierten Raum betrat. Söhnchens Neugier war außerordentlich beansprucht. Weihnachtszeit im Juli! An den Wänden waren mannshohe Schaukästen aufgestellt mit allerlei künstlicher Natur und vielen kleinen beweglichen Holzmännern. An den Scheiben konnte man sich so richtig die Nase plattdrücken. Daß das schon vorher Kinder getan hatten, zeigten einige angetrocknete Popel und anderer verwischter Nasenunrat. Die tiefer liegenden Scheiben wurden hier wohl selten geputzt.
Der Mönch gab einige unverständliche Erklärungen in niederschlesischer Mundart von sich. Söhnchen ahnte wohl, daß alles »Drumherum« hier, um ein Vielfaches älter sein mußte, als es sich vorstellen konnte.
Hilfesuchend blickte es zu Vaters Gesicht auf. Seine großen Kinderaugen überfiel ein grenzenloses Erstaunen.
In diesem Augenblick begannen sich ferne Vergangenheit und hautnahe Gegenwart zu einem Erinnerungschaos zu vermischen. Auslösender Faktor dieses irrationalen Vorganges, den der Besucher durchlebte, war das Wiederbewußtwerden eines aus dem Leben längst verschollenen, beiläufigen Erlebnisses, das sich vor ca. sechs Jahrzehnten hier am selben Orte zutrug. Ein mechanischer Apparat größerer Abmessung war der Auslöser dieser bisher verborgenen Wahrnehmung, die sich spontan, fast überfallartig ins Bewußtsein des Besuchers drängte, ins Bewußtsein eines gealterten Mannes, der sich plötzlich seines längst verstorbenen Vaters erinnerte, der damals mit ihm, dem Söhnchen, den Kalvarienberg in Albendorf erstieg. Beim Anblick der Schaukästen glaubte er sich zu rückgeführt auf die Sichtperspektive des kleinen Buben von damals, als Söhnchen eben an dieser Stelle stand. Der gegenwärtige Besucher durchlebte noch einmal die seltsame Faszination, die nur ein neugieriges Kind so erfahren konnte, und es schien ihm, als stiege das kleine Persönchen da aus ihm heraus, stelle sich neben ihm auf und blickte mit ihm zusammen aus der Vergangenheit in die Gegenwart — oder war es für ihn, jetzt hier, sogar die umgekehrte Sicht? So überließ sich der sonst rational geprägte Mann ganz dem Fühlen des kleinen Jungen.
Er ertappte sich dabei, wie er seine Hand sich selbst im eigentlichen Sinne — dem imaginären Kinde — an seiner Seite hinunter reichte und im Stillen hoffte, daß sie ergriffen würde, damit sie beide, nun eng verknüpft, noch einmal die Situation von damals empfinden könnten — alles noch einmal aus einer Hosenmatzperspektive. Söhnchen sah sich seine Nase platt drücken an den Glasscheiben der unteren Schaukastenebene. Dort bemühten sich im halbdunklen Labyrinth eines Bergstockes eine Vielzahl aus Holz gefertigter Arbeitsmänner in bunten Uniformen, Arbeitsbewegungen aufzuführen. Man sah sie hämmern und graben, Lasten tragen und Karren ziehen, auf ewig dazu verdammt, sich zu bücken, zu strecken, die Qualen permanenter Maloche zu erdulden. Die künstliche Landschaft, die im künstlichen Licht erstrahlte, lag oberhalb seiner damaligen Augenebene und war aus der Froschperspektive kaum wahrzunehmen.
Der Dauerstand auf den kleinen Zehenspitzen war für Söhnchen zu schmerzhaft, so fügte es sich bald, nur die untere Landschaftsebene betrachten zu können. Söhnchen war begeistert, voller Jubelstimmung, bis es staunend bemerkte, daß die eben noch so fleißigen Knappen anfingen, langsamer zu arbeiten, sich Verschnaufpausen gönnten, ungewöhnliche Zitterbewegungen einlegten, bis nach und nach der eine oder andere von ihnen mit erhobenem Pickel oder halbgesenktem Beil stehenblieb. Eigentlich erwartete S., daß die Männer ihre Geräte gleich niederlegten, denn wer hebt schon einen Hammer ohne ihn fallen zu lassen?
Da ging der Kuttenträger mit einem gewaltigen Leierschlüssel auf ein mannshohes mechanisches Uhrwerk zu, setzte den Schlüssel an ein vorstehendes Vierkanteisen und zog unter mächtigem Schnarren eine große kräftige Uhrfeder auf. Sofort hieben die meisten Holzmänner wieder fleißig auf die Steine ein. Söhnchen meinte, daß sich nun alles schneller bewegte und drehte als vordem.
So war es auch, denn die frisch gespannte gewaltige Hauptspiralfeder übertrug sofort die volle Kraft auf den großen Hauptautomaten, der wiederum gleichmäßig die vielen mechanischen Nebenwerke bediente. Söhnchen schaute gebannt in das nur scheinbare Gewirr der Gestänge und Transmissionen, der Wellen mit ihren Antriebsrädern, Gegengewichten und Hebelarmen, flinken Pendulen, Sperrhebeln und Auslösepaletten, Spindelbrücken mit geschmückten Kloben regulierten den flinken Gang unterschiedlich großer Unruhen, kleinere Spiralfedern bewegten an anderen Positionen Scherengänge. An zentraler Stelle drehte sich eine mächtige Holztrommel. Dort auf der runden Oberfläche waren in unregelmäßiger Folge Hunderte von Eisenstiften eingeschlagen. Diese sich drehenden kopflosen Nägel hatten dann und wann bestimmte Arbeitsgänge der Maschine auszulösen. Wohin man auch blickte, Spindel und Kronenräder, Gabeln, diverse kunstvoll bearbeitete Hemmungen schienen gegeneinander zu laufen. Die sich anarchisch gebende Mechanik war dennoch gezügelt, bewegte die unzähligen Figuren im wohlabgezirkelten Arbeitstakt.
So geheimnisvoll sich auch der Lauf dieses mächtigen Uhrwerks darstellte, so wohlabgestimmt war der Singsang, den die arbeitende Maschine verströmte. Sanftes Schnarren, leises Seufzen waren zu hören, begleitet vom dünnen hellen Klang ferner Glöckchen. Dazwischen das beruhigende Stakkato der tickenden Pendulen und Hemmungen. Manchmal, wenn Hebel kurzzeitig den Fall von Gewichten auslösten, diese an ihren Zugketten schneller abliefen, wurde das Konzert der Eisen- und Messingräder mit sanftem Trommelwirbel unterlegt. Geräusch und Bewegung gerieten so in vollkommene Harmonie.
So erlebte das 6-jährige Söhnchen damals die Geschehnisse auf dem Kalvarienberge. — Über ein halbes Jahrhundert später war Söhnchens Existenz längst erloschen, aufgebraucht in der Person, die jetzt überraschend wieder vor diesem mechanischen Wunderwerk stand und nun endlich in der Lage war, auch die obere Ebene der Schaukästen zu betrachten. Das einst Unverständliche, geboren aus der halben Sicht des damaligen Kindes, begann sich aufzulösen. Der späte Betrachter wußte, daß er vor dem Kunstwerk eines naiven Krippenspieles stand, das irgendwann in napoleonischer Zeit von einem böhmischen Bergmann in lebenslanger Arbeit geschaffen worden war. Dieser schenkte es den Mönchen am Berge. Der ältere Besucher stand noch lange nachdenklich im halbdunklen Raume, betrachtete verstört seine sich vergeblich ausstreckende Hand. Söhnchen hatte ihn längst verlassen und war in die Vergangenheit zurückgekehrt. Der 60-jährige dankte dem polnischen Mönch, der ihn so freundlich eingelassen hatte und trat in einen anderen Sommer hinaus.
Geblieben waren frische, alte Erinnerungen an eine jener schönen Nebensächlichkeiten, die das Leben so nachhaltig bereichern.