Ach, diese ungeliebten, feindlichen Nachbarländer, gerade sie waren Quellen der Sehnsucht. Ab und an drangen von dort Nachrichten über andere Lebensweisen, außergewöhnliche Freiheiten in die Zentren und Täler der »Behüteten« und ließen bei einigen übermütigen Landskindern Wünsche wachsen, neue Territorien zu entdecken. Solcherlei Tollheiten wurden sogleich bekämpft, die stationierten »Behütungsorgane« unverzüglich angewiesen, angemessene Sperren, Zäune, Drahtpfähle, Palisaden oder andere unüberwindliche Barrieren anzulegen und, wenn nötig, mit Härte mögliche Ausbrüche zu unterbinden. Seitdem war mehr als ein halbes Jahrhundert dahingegangen, und nichts hätte sich ändern können, wenn nicht die Natur als Selbstregulativ eingegriffen hätte.
Von Absonderlichkeiten, die Veränderungen einleiteten, von Veränderungen, die schleichend im Schneckengang vorankamen, soll berichtet werden.
Die Buben und Mädchen, die da im Schlagschatten der hohen Betonhindernisse heranwuchsen, lebten im Dauerstreß der Neugierde, diese Barrieren begrenzten ihren Fernblick. Nur, wenn es einem von ihnen manchmal gelang, einen der wenigen hohen Bäume mutig bis in gefahrvollen Spitzen zu erklimmen, konnte er bei Rückkehr etwas von seiner Fernsicht erzählen.
Besonders an Tagen und Abenden, wenn die Fernsicht gut war, hockten die Kinder und Halbwüchsigen im Geäst dieser uralten mächtigen Bäume, die das weite Land im Vörsperrgebiet überragten. Wenn man sich einem solchen »Solitär« aus einiger Entfernung näherte, fühlte man sich fast an einen »Krähenbaum« im Spätherbst erinnert, der über und über mit krächzenden Rabenvögeln bestückt ist.
Kinder, die sich da später am Stamme herabhangelten, um den anderen die ersehnten »Spitzenplätze« freizugeben — überreichten diesen wie selbstverständlich ihre soeben benutzten Beobachtungsgeräte — erzählten von mächtigen, geschminkten Häusern, von der ameisenartigen Unruhe, die die dort lebenden Menschen durcheinandertrieb, vom geschäftigen Hin und Her eines brodelnden Verkehrs, von den blitzenden, gleißenden Reflexionen, die sich bunt am nächtlichen Himmel stauten.
Diese Berichte verzauberten sogleich die Augen der umstehenden Halberwachsenen. Dagegen kamen anderntags die staatlich bestellten Märchenerzähler nicht an, die in Schulen und Horten von den bösen Tanten und Onkeln jenseits der Grenzen berichteten. Wenn der Schlaf die Kids überfiel, die Träume sich einstellten, tanzte ein buntes Kaleidoskop der Einbildung vor ihren Augen und die Märchenerzähler verwandelten sich in abstruse Figuren mit großen Mäulern, daraus reichlich Lügen flössen! Das vormittags Verteufelte verkehrte sich nächtens ins Schöne, Anbetungswürdige. Wenn dann die Träume sich wieder in der Wirklichkeit verloren, blieb einzig das süchtige Verlangen, Vorenthaltenes selbst erleben zu können. Die Traumsehnsucht war in ihren Seelen verankert, auch wenn anderen Tags der reglementierte Schulunterricht wieder ihr Alltag wurde. Viele Kids freuten sich auf die kommende Nacht. So manches Elternpaar konnte nicht hilfreich sein, das Denken war der verordneten Anbetung gewichen oder die Knoten der Feigheit in ihren Köpfen hinderten sie, festgezurrte Denkschablonen zu lösen. Die Kinder blieben sich selbst überlassen, erlebten die nahen Sperren als unüberwindlich.
Hin und wieder gelangte, auf welch verschlungenen Pfaden auch immer, Spielzeug in ihre Hände, welches sich so seltsam vom Landesangebot unterschied, daß es sogleich als »Jenseitiges« zu identifizieren war. Farbige Blüten der Phantasie wurden entfacht, die Neugier stachelte sie an, sich ihren Freunden zu offenbaren; so erzählten sie sich gegenseitig die nächtlichen Träume — lernten aber auch vor den Erwachsenen schweigsam zu sein.
So brütete dieser unaussprechliche Wunsch in ihren kleinen Köpfen, die Barriere zu überlaufen.
Sie begannen, verbotene Spiele zu spielen. Mauern zu überspringen, Hindernisse zu überwinden wurde bald zum Spiel der Spiele. Bei solcher Hingabe stellten sich mit der Zeit passable Fertigkeiten ein, die den Kids aber nichts nützten, denn die realen Mauern waren viel zu hoch getürmt, als das normale Menschenmaß sie hätte spielend bewältigen können. »So wuchs der Frust in Kinderbrust«. Es vergingen Jahre, bis Mediziner und andere Personen der Wissenschaft, in den nahen Grenzregionen einen außergewöhnlichen Längenwuchs bei vielen Jugendlichen feststellen mußten.
Vorerst paßte das in das Konzept ehrgeiziger Sportfunktionäre, die
ihre Direktiven, Siegertypen zu produzieren, verwirklichen konnten. Die übergroßen und sprungkräftigen Mädchen und Jungen wurden sorgfältig selektiert, gefördert und bald gut bezahlte »Staatsgewinner«. Andere Nationen gerieten sportlich ins Hintertreffen. Die Superkids errangen, wo sie auch eingesetzt wurden, alle möglichen Medaillen und beförderten so den Ruhm ihrer Oberinnen, denen zu Ehren sie in die Tabuzonen außerhalb der Staatsgrenzen geschickt wurden.
für die langen Mädchen und Buben war das vorerst der einzige Weg für kurze Zeit, wenn auch von Betreuern beschattet, die Länder der frühen Neugier zu besuchen.
Indessen, die Früchte des Ruhms wurden schnell madig, denn der Geburtenzuwachs an solch langen Kerls und Mädchen nahm im Lande sprunghaft zu und bescherte den betreuenden Eltern ansteigenden Unbill. Die an sich schon früher desolate Versorgungslage der gemeinen Bevölkerung mit Lebensgütern aller Art verschärfte sich. Die bis 2,50 bis 3 Meter großen Kids benötigten Sondergrößen bei Bettgestellen, Tischen, Stühlen. Von übergroßen Schränken, die übergroße Titanenkleidung aufzunehmen hatten, ganz zu schweigen. Schuhe mit solch ungewöhnlichen Ausmaßen, die vorerst nur in Handarbeit hergestellt werden konnten, glichen mittleren Schifftransportmitteln, um das böse Wort von Elbkähnen zu vermeiden, wenn sie unbenutzt als Wegbarrieren in den kleinen Stuben herumstanden.
Selbst Abortanlagen gewohnter Norm wurden für sie untauglich. Gewaltige Brillen und Becken waren zu installieren. Die Spülanlagen mußten größeren Druck aufweisen, um Spülfähiges abräumen zu können. So ergab eines das andere.
Schulen, Universitäten stöhnten unter den Mehrkosten, die die neuen Bestuhlungsprogramme verschlangen. Kleineres ließ sich nie in Größeres umarbeiten. Die staatliche Baukapazitäten waren gänzlich überfordert, um die vielen neuen gewaltigen Zu- und Ausgänge, sowie Wohnungen zu schaffen. Den Jungtitanen konnte man ja nicht zumuten, dauernd gebückt in den Wohnräumen zu laufen. Um Verletzungen an Schädelpartien und anderen Körperteilen der Großwüchsigen so klein wie möglich zu halten, mußten wenigstens Auspolsterungen an alten Türzargen vorgenommen werden. Das galt auch für andere Ecken und Kanten. Krankenhäuser wurden teilweise umgerüstet, aber Betten in gewohnten Längen wurden auch noch benötigt, denn sonst verirrten und verstrickten sich die Normalen im überdimensionierten Bettzeuge.
Bus- und Eisenbahnbehörden hatten neue Spezialfahrzeuge für Übergroße zu konstruieren, um Übergroße einigermaßen artgerecht transportieren zu können.
Der Leser kann sich noch manchen Engpaß selbst ausdenken, ich möchte keine weitere Seite mehr damit füllen. Aber auf ein Problem will ich doch noch eingehen!
An den allseits beliebten privaten Verkehr mit Autos, Krädern, Mopeds oder Rädern war bei diesen jungen Großwüchsigen schon lange nicht mehr zu denken. Neidvoll schauten sie den Normalwüchsigen zu, wie die an solchen Fahrgeräten lustvoll den Gashebel bewegen konnten, um dann flott davonfahren zu können, ohne sich dabei mit den Kniegelenken k.o. schlagen zu müssen. Da wurde schon manchmal ein solches Moped von den langen Neidern mutwillig fahruntüchtig gemacht. Anfangs versuchten die Rechtsbehörden bei solchen Vorfällen großzügig zu wirken, indem sie kleinere Geldstrafen verhängten. Doch der Frust der Großwüchsigen nahm zu!
Wie viele kleine aufgehäufte Steine einen großen Steinschlag auslö- sen können, so reifte das Unheil langsam aber stetig heran. Wohin die langen Teens auch kamen, sich aufhielten, sie störten die Zwerge, wie sie die Normalen inzwischen verächtlich nannten. Im Kino verdeckten sie die Sicht der anderen. »Kopf ab!« Dieser Ruf aus der Dunkelheit herausgeschleudert, war noch einer der harmlosesten.
Bald sahen sich die Langkids ins Gruppenghetto gedrängt. Langkids maskuliner Ausformung bumsten nur vergleichbar weibliche Riesinnen und umgekehrt. Die Gene der Langwüchsigkeit fanden fruchtbaren Boden. War mal ein weiblicher Riesenteen auf einen kleinen süßen Normi scharf — nichts ging so richtig, die Paßform war zu klein! Sauer stieg man voneinander. Groß fand nur zu groß. Zwischengrößen waren seltener anzutreffen und daher begehrt!
Die Welt in diesem abgesperrten Land schien sich aus den Angeln zu bewegen. 20 Prozent der Bevölkerung bestanden aus Langteens und Twens — Tendenz steigend —, doch dieser Menschenanteil verschlang das Drei- bis Vierfache an Nahrung, die sich ein Normaler einstopfte. Die gebeutelten Eltern dieser Kids verdienten ja nicht mehr als andere, hatten aber allein für all die Mehrkosten aufzukommen. Gewisse Sonderzuwendungen des Staates blieben unzureichend. Auch das trug dazu bei, den Seelenfrieden der Generationen zu hintertreiben.
Die Staatsbehörden behielten ihren musealen Paßgang bei. Außergewöhnliche Entwicklungen kamen in ihrem ideologischen Lehrbuch nicht vor. Sie wiesen alle Schuld von sich, unterstellten in bewährter Manier, die geschaffenen Zustände hätten allerlei Böslinge zustande gebracht, Insurgenten aus dem Mastdarm der Republik. Selbst die alten Säulenheiligen wurden zur Rechtfertigung weiterhin zitiert, die Pflicht zur allgemeinen öffentlichen Politbildung verschärft.
Eine gewisse Wende schien sich im Denken der Herren erst anzubahnen, als hohe Militärs ihr Bürgersoll an dienenden Muschkoten nicht mehr einbringen konnten. Dieser Trend hatte Klagen ausgelöst. Die Ursachen mußten den Verantwortlichen eigentlich einleuchtend erscheinen. Wehrkommandos, Ausrüstungs- und Beschaffungskommissionen sahen sich außerstande, ihre bisher erfolgreichen und natürlich teuren Panzer mit neuen Besatzungen zu bestücken, denn die Mehrzahl des jungen männlichen Einberufungsgutes (aha, Riesenkids!) paßte nicht mehr in die Panzereinstiegluken. Die blieben schlicht stecken (einige mußten, so ließen Insider verlauten, mit Seilwinden wieder herausgehievt werden). Vor solch unmilitärischen Pannen sei der Teufel, und alles schrie nach Neukonstruktionen.
Daß auch anderes militärisches Großgerät nicht von ähnlichen Problemen verschont blieb, lag auf der Hand. Neuanfertigungen mit solch paßgerechten Aufbauten widersprachen aller militärischen Effektivität. Solche stählernen Riesenungetüme waren nämlich leicht abzuschießen.
Auch die Generalität für Luftwesen sah sich vor einen Abgrund getrieben, die schnieken Düsenjäger waren für lange Lümmel viel zu klein. Selbst läppischen Maschinenpistolen gerieten in den großen Pfoten der langen Militärkids zu spielzeugartigem Gerät! Kasernen wurden bald zu untauglichen Unterkünften.
Die Disziplin verfiel, da selbst der einst erfolgreiche Gummiknüppel zu Befehlsdurchsetzung in den Händen eines bewährten Militärpolizisten in den Augen eines zu lang geratenen Rekruten zum Zahnstocher verkam. Die Führungskräfte, Offiziere ernteten nur noch Hohngelächter — Vaterlandsliebe ade! Wer sollte Unbotmäßige in zu klein geratene Zuchthäuser oder Arrestzellen sperren? Überall Klagen, bei der Landespolizei, den Gerichten, Grenzorganen und der Staatssicherheit.
Als ganze Clans von Langkids schließlich zuhauf — auf ihre Rücken hatten sie ihre normalgewachsenen Verwandten und Freunde gleich Rucksäcken geschnallt — vor den für sie jetzt zu klein geratenen Grenzsperren erschienen und sich anschickten, mit eleganten Sprüngen und Kehren diese zu überhüpfen, brach, nachdem fremde Nachrichtensprecher darüber berichteten, landesweit ein Chaos aus. Solche Massendurchbrüche waren nun nicht einmal mehr mit Schußwaffen zu verhindern.
Eine erstaunte Weltöffentlichkeit beäugte aufmerksam das wunderliche Schauspiel. Die Oberen in den jenseitigen Aufnahmeländern ahnten bald, daß nun auch sie von den Problemen, die diese Jungtitanen ihnen bescherten, heimgesucht würden. Geheimverhandlungen darüber wurden sofort angeboten. Am Geldbeutel endet zuviel Humanität. Doch vorerst waren die Verursacher der massiven Landesflucht gefragt.
Die Oberen verkündeten spontan eine neue Offenheit und dergleichen mehr. Um dem Dilemma zu entgehen, erlaubte man plötzlich großzügig Reisen und andere erstaunliche Freiheiten. Die Presse wurde nicht mehr genieret. Die Kids erlaubten sich im Fernsehen eine dicke Lippe. Das Mauerspringen ebbte ab, man reiste legal aus! Die Einwohnerzahl lichtete sich merklich, darum riefen die Regierenden einen großen wissenschaftlichen Kongreß ein, um die Gründe und Ursachen, die zu diesen einmaligen Ereignissen geführt hatten, zu erforschen. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen aus aller Welt reisten an, um hilfreich zu sein. Es herrschte erstmalig die völlige Freiheit der Forschung und des Wortes. Nach einigen Monaten intensivster Arbeit in den wissenschaftlichen Instituten und Kolloquien sickerten einige Ergebnisse in die Weltöffentlichkeit. Es waren also keine Gerüchte, die sich da in Windeseile verbreiteten!
Die Ursachen der domestizierten Langwüchsigkeit — so bezeichnete man das Phänomen — lägen wohl ursächlich im mentalen Bereich der Heranwachsenden. Diese Jugendlichen würden durch sinnlose Lehren genervt. Um ihnen die scholastische Ideologie einzubleuen unterlägen sie heftigster Bevormundung, anpasserischen Zwängen, so daß ihre eigenständige Entwicklung derart gehemmt erscheine, daß es für die Kids nur noch den einen Ausweg gegeben habe, physisch größer zu werden, als ihre Märchenerzähler, Lehrer, Polizisten, Eltern, Ausbilder, Generale und andere Aufsichtspersonen bis hin zu den verachteten Sperranlagen. Das führte wohl über viele Jahrzehnte zu einem Frustationsstau, der allmählich zu genologischen Veränderungen führte. So tauchten im letzten Vierteljahrhundert solche Mutanten auf.
Abhilfe könne vorerst nicht geschaffen werden — man hoffe aber, daß die Großwüchsigkeit zurückgehe, wenn der menschlichen Gesellschaft wieder humane Entwicklungsräume zugestanden würden.
Sollte man meinen, den alten Regierungsstil einfach beizubehalten, die Grenzbefestigungen nur zu erhöhen, würde das nun einmal eingeleitete Längenwachstum bestimmt weiter voranschreiten.
Staat, Natur und die Menschen würden dem totalen Kollaps ausgeliefert sein.
Wichtige Entscheidungen standen an — möchten sie in der Haut solcher Regierenden stecken?