Diese Begebenheit hat ihre Ausläufer bis in die Gegenwart unseres Jahrhunderts. Anzumerken wäre, daß nicht alles erlogen und erstunken ist, worüber berichtet werden wird. Wahr ist auch, daß die militärischen Umzüge in einer Monarchie begannen, und die hätten enden können, als diese zerfiel; doch ragen diese permanenten Aufführungen, diese »Mummenschanzhofschauspiele«, in die folgende republikanische Herrschaftsperiode hinein, die sich die gegenwärtigen Untertanen mehr oder weniger freudig ausgesucht hatte. Die Soldatenschauspieler unterschieden sich bald von ihren militärischen Vorfahren durch modernere Kampfuniformen und effektiveren Gewehren, denn das dekorative Element war inzwischen aus der Mode gekommen.
Trotzdem, die Vorgesetzten verfügten — Gott sei Dank — noch über genügend Traditionsbewußtsein und staffierten ihre Soldaten, wann immer möglich, mit vielen schmucken Versatzstücken aus. Man wußte schließlich, was sich gehörte.
Das sonderbare militärische Gepränge konnte man täglich achtmal (und da war die Nacht natürlich mit einbezogen) auf einem Sturzacker bestaunen. Dieser Sturzacker konnte sich je nach Jahreszeit als besonders tückisch für die ausführenden Organe erweisen. Angenehm, wenn der Frühling sich auszubreiten begann, dann verwandelte sich besagtes Feld in eine schöne Blumenwiese, auf der sich dann die herausgeputzten Soldaten besonders prächtig aus- nahmen.
Doch wehe, wenn der Herbst mit seinen langen Regengüssen begann, die längst verwelkten, ausgewachsenen Blumen sich in den langsam wachsenden Modder legten, der Erdschlamm die eben sorgsam gewienerten Uniformstücke, die blanken Stiefel so unansehnlich zurichteten. Denn das ganze Zermoniell, mit Fahnen bestückt, musikalisch durch eine bunte Militärkapelle begleitet, wurde natürlich im akkuraten Stechschritt vollzogen. Hei, wie sich da die vielen kleinen Schmutzpartikelchen auf den Helmen, in den Nasenlöchern, schmucken Schnauzbärten verfingen!
Diese Schmutzteilchen wurden dann zu argen Quälgeistern, wenn sie sich in den offenen Augenlidern der Soldaten festsetzten und diese an der richtigen Aussicht hinderten; infolge begann ein auffälliges Grimassenschneiden und Augenzwinkern ihre Gesichtszüge zu verunstalten, denn die armen Muschkoten sträubten sich natürlich dagegen partiell, das Gesichtsfeld zu verlieren. Die Lachsalven der schadenfrohen Zuschauer, die den bedauerlichen Zustand des militärischen Personals begleiteten, störten unsäglich die Mühen des feierlichen Aufzuges!
Davor ein Offizier mit gezogenem Säbel, der dirigierte seine zwei Untergebenen mit rauhen Befehlsschreien in die Mitte des aufgeweichten Wiesenackers. Dort, nach einigen Rechts- und Linksumkommandos, kamen sie endlich, Angesicht zu Angesicht, mit geschultertem Gewehre stehend zu Platze. Der Abstand von Nasenspitze zu Nasenspitze betrug kaum ein Meter.
Doch erst jetzt begann das militärische Martyrium für die beiden Zwangsbeteiligten — das absolute Stillstehen!
Was half da schon, daß sie alle Viertelstunden einen kurzen Entspannungswechsel vornehmen durften?
Nach erfolgter Einweisung zog der Offizier unter übermäßigem Beinschwingen vor seiner nur ebenfalls abziehenden Kapelle seine Bahn in Richtung eines in aufwendiger Architektur angelegten Wachgebäudes.
Die zwei Einsamen waren nun in der Mitte des Platzes dienstlich abgestellt, regneten je nach Wetterlage und Jahreszeit entweder bis auf die Haut ein oder dörrten in der sengenden Sommerhitze, froren heftig in manchen Frostnächten.
Wenn dann im Winter die eisigen Schneestürme tobten, versanken sie manchmal in Schneewehen und mußten ab und an von anderen Hilfswilligen freigeschaufelt werden, damit die Ablösung ihren Platz einnehmen konnte. In der warmen Unterkunft mußten oft die heimgeführten Steifgefrorenen zurück ins Leben warmgeknetet werden. Ach, der Ablauf der Zermonie im Winter litt arg unter der hohen Schneeauflage! Dann schwankten die armen Soldaten und stapften, Jammergestalten gleichend, zum verschneiten Wiesenmittelpunkt — vergeblich ihr bestes an militärischer Exaktheit wagend.
Wenn ein Fremder den einen oder anderen Gaffer befragte, warum und zu welchem Anlasse sich die sonderbare Aufführung so vollziehe, schaute dieser ihn befremdlich an, zuckte mit den Schultern und antwortete: »Das ist hier so üblich, es spielt sich immer so ab, seit ich hier lebe!«
Wandte sich der neugierige Frager an eine durch graue Haare als alt ausgewiesene Person, die Antwort machte ihn nicht klüger. Laute Zurufe an die Soldaten wurden von diesen aus dienstlichen Gründen nicht beantwortet.
Wie jetzt, so mag es sich seit Jahrhunderten zugetragen haben dort auf der Wiese. Früher mögen die Soldatenröcke bunter gewesen sein, die hohen Bärenfellmützen, die blanken Messingmonturen malerischer ausgeschaut haben, doch die Unbill mag nicht weniger unerträglich gewesen sein.
Irgendwann mußte es einem amtlich bestallten Regierungskontrolleur, der die Staatsfinanzen auf unnütze oder sonderbare Militärausgaben zu durchforsten hatte, aufgefallen sein, daß ein erkleckliches Sümmchen an Sonderzuwendungen immer dieser obskuren Wacheinheit zugesprochen wurde. In diesem Beamtengehirn entfaltete sich ein Nachforschungstrieb, der bald eine gewisse Eigendynamik an Aufklärungsbemühen zufolge hatte.
Eine in diesem Sinne verfaßte Eingabe erreichte den zuständigen Militärgouverneur. Der beauftragte standesgemäß einen Obersten, sich der Anfrage anzunehmen. Den nachdenklich gewordenen General, zum Gouverneure inzwischen anvanciert, hatte nämlich die Erinnerung heimgesucht. Ihm war bewußt geworden, daß auch er einst vor ca. 50 Jahren als junger Soldat dort auf der Wiese für sein Vaterland gefroren oder geschwitzt hatte. Aber ihm war nie in den Sinn gekommen, nach dem Warum zu fragen. Welcher Soldat begeht schon solch eine Art Insubordination?
Jetzt im Alter spürte er den Drang, etwas mehr darüber wissen zu wollen, zumal er nun über die nötige Befehlsgewalt verfügte.
Der Oberst, in Uniform eine imposante Erscheinung, machte sich min auf den Weg, das Rätsel zu lösen. Er ließ sich zum besagten Sturzacker kutschieren, entstieg dort einem Gefährt und begab sich zu den zwei unbeweglichen Wachtposten. Es war ein lauer Sommernachmittag! Nachdem er den beiden Sprecherlaubnis erteilt hatte, befragte er sie leutselig, ob sie denn wüßten, warum sie hier stünden? Er entlockte den beiden Posten nur ein einmütiges: »Ist befohlen worden!«
Mehr von ihnen erfahren zu wollen, erwies sich als nutzlos. Also begab er sich, der Herr Oberst, festen Schrittes in die Richtung des wohlgebauten steinernen Wachtgebäudes, durchschritt eine prächtige Säulenhalle, so eine Art Atrium.
Wachtposten schlugen die Hacken zusammen, daß sich der Nachhall an den schönen Marmorwänden angemessen brach. Ein Chargierter vollbrachte eine tadellose Meldung und führte den fremden Vorgesetzten in das prächtige Dienstzimmer des wachhabenden Offiziers. Auch dieser konnte nur bestätigen, daß er Befehle ausführe! Private Recherchen waren nutzlos, schließlich mußte der Dienstweg eingehalten werden. Alle weiteren Befragungen der höheren Chargen erbrachte keine Klärung. Jeder weitere Vorgesetzte verwies den Befrager an seinen nächsten Übergeordneten, und so stand der Herr Oberst plötzlich wieder vor der holzgetäfelten Tür seines Generals, der ihn ja losgeschickt hatte. Die Katze hatte statt einer Maus ihren Schwanz gefangen!
Fazit: »Ist befohlen worden!«
Hilflosigkeit übermannte die hohen Herren, bis man auf die rettende Idee kam, eine fleißige Polizeifigur in der Art eines findigen Ermittlungsbeamten mit der Aufklärung dieser »Kuriosität« zu beauftragen.
Dieser neue Beauftragte wurde bald aktiv, ließ allerlei alte Akten, Protokolle, verstaubte Dienstablagen in Militärarchiven durchforsten. Doch die eingesetzten Diensthilfen kamen nach Monaten aufwendiger Nachforschungen nicht weiter.
»Ist befohlen worden!«, lautete jeweils der lapidare Satz. Inzwischen vollzog sich wie eh und je das militärische Wiesenschauspiel, und da es wieder einmal Winter geworden war, mußten die armen Soldaten weiterhin freigeschaufelt werden. Denn ein Befehl konnte erst durch einen anderen Befehl aufgehoben werden, wenn ersterer Befehl als ein solcher aktenkundig gemacht wurde oder wenigstens als ein solcher überhaupt erkannt werden konnte. Der Deibel saß im Detail! Dem klugen Ermittlungsbeamten kam eine exzellente Idee! Er erinnerte sich an das prächtige alte schioßartige Wachgebäude, das er wahrgenommen hatte, das da am Rande der Wiesen- cinöde gebaut worden war. Er befragte sachkundige Architekten, die diese wohlproportionierte Anlage als ein Exempel frühklassizistischer Bauweise kannten. Sehr spätes 18. Jahrhundert, das stand außer Frage bei den Herren. Die alte Kladde mit den Architekturentwurfszeichnungen eines bekannten Hofbaumeisters fand sich ein. Der Befehl, die Anordnung, diesen Bau auszuführen, mußte als unmittelbar mit der militärischen Zeremonie dort auf dem Sturzacker Zusammenhängen. Diese Zeit fiel in die Regentschaft einer sehr berühmten, außergewöhnlich robusten Monarchin. Aber nichts anderes als sachliche Ausführungen über das Bauvorhaben waren auszumachen. Keinen Hinweis auf das militärische Ritual! Auch dieser Weg war versperrt.
Übrigens erstaunlich war der damalige kostenintensive Aufwand für dieses schloßartige Gebilde; angelegt für ca. 50 Soldaten nebst Versorgungspersonal.
»Ist befohlen worden!«
Der Ermittlungsbeamte hatte nun seinen neurotischen Trieb bekommen, Erfolg haben zu müssen. So begab er sich in die Tiefen der Vergangenheit, um mögliche Nachkommen von Zeitzeugen zu vernehmen. Der Ermittler hatte seinen Auftrag im Jahre 1927 erhalten. Das Wachgebäude war 1795 fertiggestellt worden, also habe er einen Abschnitt von ungefähr 135 Jahren zu bewältigen, errech- nete er messerscharf.
Wieder gelang es ihm, sich abermals eine geniale Idee abzuringen. Da bei den hohen Herren bisher nichts auszumachen war, begann er bald, sehr alte ehemalige Domestiken beiderlei Geschlechts, die am damaligen Hofe beschäftigt waren, auszufragen, ob die eine oder der andere sich nicht an irgendetwas erinnern könne, warum achtmal am Tage eine aufwendige Wache einen nutzlosen Sturzacker beaufsichtigen müsse.
Ein vages Hin und Her an Mutmaßungen war die Folge, bis man ihn an einen alten Lakaien verwies, der wohl noch lebe. Dieser stand im achten Lebensjahrzehnt. Ein alter krummgewordener Gärtner kramte in seinen Lebenserinnerungen und wurde fündig! Der alte Herr kannte das heute täglich aufgeführte Militärspektakel noch aus einer sehr frühen Kindheit. Schon damals mußte er als Bub die grimmassenschneidenden Soldaten belachen, die sich beim Paradieren so mit Dreck beschmutzten. Einmal seien sogar zwei Wachtposten im Winter umgekommen!
Das war sehr traurig! Als man sie wieder einmal ausschaufelte, seien sie einfach so kerzengeradegefroren umgefallen!
Einmal, als kleiner Junge, als er an der Hand seines damals wohl auch schon 80-jährigen Großvaters hing, erinnerte er sich, habe ihm sein Opa, auf die Bärenmützensoldaten zeigend, erzählt, warum diese da Wacht stünden.
Er sei ein halbwüchsiger Gärtnergehilfe gewesen, habe immerzu Gras sicheln müssen, da sei ihm folgende Geschichte zu Ohren gekommen, die man sich damals bei der Arbeit erzählte:
Einst sei die berühmte Monarchin auf einem Ausritt im zeitigen Frühjahr in die Nähe eines Dorfes gekommen, ritt eben über diesen Sturzacker, als sie unter Schneeresten drei Schneeglöckchen blühen sah. Die Regentin unterbrach ihren Ritt, stieg vom Pferd und betrachtete versonnen die ersten Frühlingsboten. Schon wollte sie wieder ihren Schimmel besteigen, da bemerkte sie Bauersleute, die auf ihren kleinen erbärmlichen Holzschlitten Reisigbündel transportierten und wenig Neigung verspürten, Blicke auf Frühlingsboten zu verschwenden und hart am Standplatz der Schneeglöckchen vorbeiglitten; Spuren zeigten das an! Die Monarchin wurde immer von einer Kavalkade berittener Husaren begleitet. Sie bedeutete zwei von ihnen und einem Offizier, sofort abzusitzen, um die drei Schneeglöckchen zu bewachen, damit diese noch lange blühen mögen. Wieder aufgesessen, verfügte sich die Kaiserin ins nahe Lustschloß.
Die Subordination konnte nun zur vollen Blüte gelangen. Der Befehl war ja niemals aufgehoben worden, die junge Kaiserin hatte ihn schlicht vergessen. In den ca. 135 Jahren hatte sich dieses »Launenbefehlchen« zu einer Staatsaktion verselbständigt.
Unser Befrager genoß nun das Glücksgefühl des Erfolgreichen. Der stolze Vernehmer verfaßte bald für einen Vorgesetzten einen ausführlichen schriftlichen Bericht. Dieser gelangte zum General – dem Gouverneur.
Nun, so sollte man meinen, bestand berechtigte Hoffnung, daß die Soldaten fürderhin aus diesem unverständlichen Ritual erlöst würden. Doch die hohen Militärs waren von der strikten Befolgung eines sinnentleerten Befehles, der ohne wenn und aber ca. 135 Jahre lang vollzogen wurde, so entzückt, daß sie per Ordre (diesmal aber schriftlich fixiert) weiter auf Vollzug der Anordnung aus dem 18. Jahrhundert bestanden.