Der Arschtritt ins Gesicht

Der Arschtritt ins Gesicht

Der schwere hölzerne Kochlöffel traf in rhythmischer Folge die Stirn, den Hinterkopf mit den langen blonden Zöpfen. Das hübsche Gesicht ertrug den Schmerz — ich hörte keinen Laut. Dieser zum Schlagholz denaturierte Holzlöffel war soeben von einer fleischigen, welken Hand aus dem dampfenden Suppenkessel gezogen worden; Fetzen großer, schlapper, noch heißer Krautblätter klebten am Stiel, bildeten ein nur unzureichendes dünnes Polster. Eine Flut wilder Flüche, ein Konglomerat deutsch-polnischer Verwünschungen begleiteten diese strafende Hand, die weiter erbarmungslos diesen anmutigen Mädchenkopf malträtierte. Die anderen jungen Küchengehilfinnen in den langen zerrissenen, blaugestreiften Arbeitskitteln verkrochen sich in den dunklen Ecken der Behelfsküche und hofften, so dem haßerfüllten Strafgericht zu entgehen.
Ich wußte nicht die Gründe, warum das geschah, was ich sah. Ich war eingetreten in den ehemaligen Stall dieser Domäne, um meine Tante aufzusuchen, die mich doch so freundlich in den Schulferien zu sich eingeladen hatte. Tante Emilie, diese halbreiche Erbtante, die uns ihr bescheidenes Vermögen hinterlassen wollte, diese Tante hatte ein Anrecht auf unsere Zuneigung. Da stand ich nun zufällig in der Türöffnung, schaute ins Halbdunkel und gewahrte den strafenden Berserker mit dem grauen, streng geknoteten Haar und erfuhr so etwas vom zweiten, anderen Leben meiner lieben Tante, die sich eigentlich nach Verlorenwasser, einem kleinen Dorf nahe Habelschwerdt, aufs Altenteil zurückgezogen hatte, um die monatlichen Zinsen ihres kleinen Kapitals aufzubrauchen.
Die Nebenbeschäftigung als leitende Küchenmamsell — in ihrer .lugend ihr erlernter Beruf —, die sie bei einem strammen Erbhofbauern angenommen hatte, war nicht unbedingt erforderlich, um ihr Auskommen aufzubessern. Ja, diese Arbeit empfand sie als vaterländische Pflicht in Zeiten vaterländischer Not. Als gestandene Frau ihren Mann stehen, davon sprach sie. Um ihren Hals baumelte ein Marterl, und ihren lieben Gott wähnte sie auf ihrer Seite. Deutschland stand in Gefahr! Der blutjunge Neffe, der sie gerade besuchte, seinen neugierigen Kopf durch die Tür steckte, auch er würde in Bälde feldgrauberockt, auch zu ihrem Schutz, ein blutiges Handwerk erlernen müssen! Die liebe, so gottesfürchtige Dame,
mag sie solches gedacht haben? Warum denn sonst schlug sie so unbarmherzig auf das kaum deutsch verstehende junge Ding ein? Sie fand kein Ende, es schien, als wolle sie mir zeigen, wie vaterländisch sie sei.
Ich verließ rasch diesen zu einer Behelfsküche umfunktionierten Stall, weil ich darüber erschrocken war, was ich unvorhergesehen erleben mußte.
Sie hatte es arg und lang getrieben, die Emilie, denn nun konnte die so übel Geschlagene ihre Schmerzen nicht mehr länger unterdrücken. Die Schreie und das Wimmern wollten erst allmählich verklingen, je weiter ich in die Wiesen zum Habelschwerdter Kamm hintrat.
Von dort zur ehemaligen böhmischen Grenze, die einige Jahre zuvor von den Großdeutschen eliminiert worden war, erstreckte sich bergauf das Dorf Lichtenwalde. Beide Ansiedlungen konnten nur von einer gewissen Höhe des Bergkammes aus gleichzeitig gesehen werden. Doch wenn sonntags oder an Feiertagen die Glocken so einfältig durch die Landschaft bimmelten, konnte man sozusagen Ohrenkontakt aufnehmen. Der jeweilige Klang war unterschiedlich — ich’mochte mehr den von Lichtenwalde. Doch nicht nur darum, weil dort eine andere, dem lieben Gott ebenso katholisch verbundene Tante wohnte, die Anna, nein, der Klang der Lichtenwalder Glocke schien mir anheimelnder zu sein. Emilie und Anna waren zu feindlichen Schwestern geworden, weil unterschiedlich erfahrene Menschengeschichte sie unterschiedlich geprägt hatte.
Beide Tanten standen so in den Siebzigern. Emilie heiratete um die Jahrhundertwende Toni. Dieser, als italienischer Ingenieur für Caissontechnik, beim Bau des Suezkanals erfolgreich gewesen, hatte für seine junge Frau genügend Goldstücke gesammelt — die sich Jahrzehnte später als besonders inflationssicher erwiesen —, bis ihm die Lunge platzte und er in den Tod siechte.
Meine robuste Tante Emilie hatte danach noch manchen Mann ins Bett gezwungen, erfolgreich überlebt und so ihr Vermögen stets zu vermehren gewußt. Im letzten Lebensjahrzehnt ihres Witwendaseins hatte sie sich wieder einen neuen Favoriten auserkoren. Diesmal nicht in der Art fürs Bett oder Vermögen — nein, jetzt stand ihr ihr Sinn nach Höherem. Der Führer und Reichskanzler war es, dessen Ideen bewegten nun ganz ihr Gemüt. — Seiner Partei war sie allerdings nie beigetreten —. Bei allem, was sie von da an tat und dachte, sie berief sich immer auf Gott. Ihr Gott war ein harter, grausamer völkischer Gott.
Der anderen Tante dort im Bergdorf Lichtenwalde, der Anna, war ein anderes Leben zuteil geworden. Tante Anna erlernte in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts den Beruf einer Kaltmamsell. Sie war später beruflich erfolgreich, wimmelte sich die Männer vom Halse, lebte gottesfürchtig, nachdem ihr ein Leichtfuß in ganz jungen Jahren eine Tochter in den Bauch legte. Das wurde für sie eine prägende Lebenserfahrung, die ihr ihren Gott ganz anders erscheinen ließ: milder, sanfter, gerechter.
Der Bankert wuchs in Obhut und Pflege katholischer Schwestern auf, denn Tante Anna betreute mit ihrer Kochkunst Kurgäste, Patienten in katholischen Erholungsheimen, Kur- und Krankenhäusern, war bald eine führende Hand im Wirtschaftsgetriebe der Anstalten. Ihren Gram über die Männer konnte sie wohl nicht ausreichend ihrer heranwachsenden Tochter vermitteln, denn flugs in der saftigen Blüte ihrer Jugend heiratete diese einen Kurgast mosaischen Glaubens!
Anna haderte mit ihrem Schicksal nicht, weil er ein Jud war, sondern weil ihre Tochter so früh und überhaupt der fleischlichen Lust anheimgefallen war. Der zeitige Nachwuchs versöhnte sie dann recht bald. Ehe und Taufe wurden nach katholischem Ritus vollzogen, die junge Familie hatte ihr gutes Auskommen, zog nach Frankfurt an der Oder, als das Jahr 1933 herandräute.
Anfangs traf’s nur die Volljuden mit aller Heftigkeit, aber Anna wurde von einer bedrohlichen Ahnung befallen, was da noch alles auf sie zukommen würde durch den »Gottlosen«. So wuchs in ihr die Abscheu gegen Großmäuligkeit und Menschenverachtung, und sie kämpfte wohl dagegen an, nicht hassen zu müssen, denn das widersprach ihrem Glauben.
Doch die Vorkommnisse der folgenden Jahre — die brennenden Synagogen —, dieser befremdlich wirkende Stern, den nun viele Menschen an Mänteln und Jacken zu tragen hatten; der die Träger stigmatisierte, statt ihnen das Heil zu bringen — diese blutigen Ebenen und Steppen des Schlachtens — diese infernalischen Abläufe des einsetzenden Unterganges, all das bereitete ihrem Gemüt offene Wunden, in das sich nun endgültig der Haß festsetzte — Haß gegen die Machthaber der Zeit!
Die Enkelkinder hatten das Gymnasium zu verlassen. Der Jude, der Vater der Familie, wurde geschmäht, aus dem Beruf geworfen und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Der Krieg stand im vorletzten Jahr 1943/44. Den Abtransport ins Gas verhinderte vorerst noch seine katholische Frau, die arische Tochter der Kaltmamsell Anna. Wie lange noch?
Die Gemütsverfassung meiner Tante war schlecht in jenen Tagen, und doch hatte sie mich immer gern bei sich aufgenommen. So wurde ich am Beginn meines 17. Lebensjahres Zeuge des manischen Verhaltens einer alten Frau gegen das Unrecht, das die Oberen ihrer Sippe zufügten.
Ich schrieb es schon, meine beiden Tanten waren feindliche Schwestern. Der Jud in der Familie erregte anfangs nur den Spott der Emilie — später kam Verachtung über das artfremde Ei dazu. Beide Schwestern traten sich in dieser Zeit nie unter die Augen, obgleich nur einige Kilometer Feldwege sie voneinander trennten. Doch jede ließ die andere fast konspirativ belauern. — Sie waren gut im Bilde übereinander.
Beide Tanten schmollten und drohten mit Liebesentzug, wenn der Neffe mal die eine oder andere aufsuchen wollte. Schließlich fanden meine Eltern einen Modus vivendi. Die 14 Tage Sommerfrische wurden redlich geteilt: sieben Tage Emilie — sieben Tage Anna. In den geteilten Wochen hob dann ein großes Futtern an, ähnlich der Tortur, die Stopfgänse erleiden, wurde ich angefüllt. Keine der Tanten wollte es zulassen, daß die andere etwa besser abfüttern konnte. Latente Beeinflussungen wurden eingebracht: hier völkisch, dort prosemitisch!
Heute versuche ich zu ergründen, warum ich damals die unbarmherzig handelnde Tante so spontan verließ. Das ist nicht leicht. Interpretationen aus heutiger Sicht verfälschen; politischer Weitblick war es wohl noch nicht, obgleich mein Bruder und ich in einem liberalen Elternhaus aufwuchsen. Mutig war ich auch nicht, eher feige, sonst hätte ich der so übel Zugerichteten helfen müssen. Ich war wohl damals im Zustand früher, ungebärdiger Zuneigung zu vielen jungen Mädchen, denen durch den Krieg die Freunde abhanden kamen. Die schlägt man doch nicht. Beim Küssen verwuschelt man ihre Zöpfe. Diese Köpfchen und sinnlichen Gesichter ermuntern
zum Streicheln — man übt und erwartet Zärtlichkeit. Diese Nasen und Brüste schlägt man doch nicht blutig und blau — diese blöde Tante — das mag mir durch die Seele gegangen sein, als ich mich meiner rohrstockmächtigen Pädagogen erinnerte und die Schmerzen und Entbehrungen des Mädchens mitempfand. Diesen Arschtritt ins Gesicht.
So stapfte ich über die Äcker und Stoppelfelder zur sanfteren Tante Anna, um ihr mein Eintreffen für die nächsten sieben Tage anzukündigen.
Ein Gedankeneinschub. Spätes Nachdenken über die Tanten; Jahrzehnte danach hatte sich die Vorstellung in mir festgesetzt, das frühe Leben dieser beiden ungleichen Schwestern zu ergründen. Vieles hatte die Zeit inzwischen verschüttet. Das Rätsel ließ sich nicht mehr lösen, warum die Tanten später so handeln mußten und nicht anders. Emilie und Anna stammten aus dem gleichen Ort Ostrowy bei Kutno in Polen. Beide sprachen zwei Muttersprachen: polnisch und deutsch; beide waren eigentlich Polen, die auch deutsch sprachen, oder, wenn man will, Deutsche, die auch polnisch sprachen. Eigentlich eine gute Mischung, um gegen jegliche Art von Völkstumsdünkel immun zu sein.
Über die Prügelorgie, an dem jungen polnischen Mädchen von E. vollbracht, habe ich A. sogleich berichtet. Sie hörte mich schweigend an, dann verwünschte Tante Anna diese Exzesse der »höllischen Frau«. Das sei schon lange dorfbekannt, wie sie die armen Polen drangsaliere, sie sei schlimmer als der Ortsgruppenleiter dort. Sprach’s, griff in die Brotbüchse, raffte den vielfältigen eßbaren Inhalt in ihre Schürze, packte mich am Arm, zog mich die für sie schwer begehbare steile Stiege von ihrem Zimmer herab in den unteren Flur, hinaus auf den Dorfplatz vor der Kirche. Dort stand sie nun ostentativ — ich war schmählich etwas abseits geblieben. Sogleich verteilte sie alle Brot- und Kuchenstücke an die von der Arbeit heimkehrenden polnischen Fremdarbeiter, französischen und russischen Kriegsgefangenen. Das tat sie noch mit aufmunternden Zurufen in polnischer Sprache.
Die alten Landwehrsoldaten, die mit ihren fast unbrauchbaren Beuteschießprügeln die heimkommenden Gefangenen zu bewachen hatten, ließen es geschehen, indem sie wegsahen. Jedenfalls bemerkte ich niemanden, der gegen diese streng verbotenen, streng zu ahndenden Handlungen meiner Tante eingeschritten wäre. Jeder wußte, daß einem dafür der Kopf abgeschnitten werden konnte. Die Frauen und Männer des Dorfes, die zufälligen Mitwisser, hatte sie ein plötzlicher Seh- und Hörsturz befallen? War es die Folge lähmender Furcht, daß sie sich so unbefangen gaben — die Möglichkeit, bei eventueller späterer Befragung in Unwissenheit und Dummheit verfallen zu können?
Ob sich die Gardinen der Ortsgruppenleiterwohnung bewegten? Denn zu allem Unglück wohnte Tante Anna mit dem Bürgermeister und Goldfasan der NSDAP in einem Haus am Dorfplatz. Die Parteimischpoke war im Erdgeschoß untergebracht. Tante A. kümmerte es nicht die Bohne, und das hat mir als jungem Kerl dann noch imponiert.
Als ich mich später wieder auf den Weg zu Emilie nach Verlorenwasser machte, um ihr für den nächsten Tag meinen Aufenthalt in Lichtenwalde anzukündigen, wußte ich, daß die »Brotverteilung« ein Akt der Wiedergutmachung Tante Annas für das an den Polen durch ihre Schwester Emilie zugefügte Unrecht war.
Meine Ankündigung, morgen ins Bergdorf zu ziehen, behagte der Tante aus Verlorenwasser gar nicht. Ihre Vorwürfe, daß ich sie lieblos behandle und zur feindlichen Schwester gehe, bewogen mich, listig einen Beruhigungstag anzuhängen. Beim Frühstück fragte ich sie nach dem Grund, warum das polnische Mädchen von ihr so geschlagen wurde. Ich erinnere, sie hat sich nicht gerechtfertigt. Warum auch!
War sie doch überzeugt davon, nichts Unrechtes getan zu haben. Die Pollacken seien faul, sabotierten die Arbeit wo sie nur könnten. Eine ordentliche Tracht Prügel sei die richtige Medizin für solche — das brauchen die! Und im übrigen ihre Schwester, die Anna, falle dem Führer in den Rücken! Die wird sich noch wundern!
Im nachhinein weiß ich, Tante Emilie hat nie ihre judenfreundliche Schwester angezeigt.
Am nächsten Vormittag bin ich dann nach Lichtenwalde gewandert, um den Rest meines letzten Sommerfrischenaufenhalts dort zu verbringen. Ich habe mich herzlich von Tante Emilie verabschiedet, denn ich ahnte, daß meine Zeit heranreifte, eingezogen zu werden. Ich war damals ein knapp Erwachsener, eher ein Halbwüchsiger, doch schon alt genug, nach Meinung der Altvorderen der Macht, für den Opfertod. So zog ich hin und habe Emilie nie mehr wiedergesehen. Sie starb im Herbst 1944.
Am späten Nachmittag, kaum daß ich meinen Tornister abgeschnallt hatte, mußte ich an einem reichgedeckten Tisch Platz nehmen. Es folgen lange Gespräche, aber auch Berichte über das Elend der Juden, ihrer Familien unter Hitler. Sie sprach lautstark, schwer asthmatisch atmend, eine Folge ihrer Beleibtheit, doch ohne Furcht, daß unbefugte Ohren mithören könnten.
In der engen Bauernstube hing viel religiöser Schnickschnack, Devotionalien an den Wänden. Wachsblumen, zertropfte Kerzen umrahmten blutende Jesusherzen. Überall die leidvollen Augenaufschläge allbekannter Nothelfer. Doch mittendrin, schier ein Fremdkörper in all der Inbrunst, ein Foto des damaligen Reichsministers Alfred Rosenberg, angetan im obligaten Goldfasanenlook der Machthaber, ganz Mythus des 20. Jahrhunderts — für die Tante war er einer der Hauptverantwortlichen am Elend der Juden. Warum das Glas, das das Foto schützen sollte, so auffallend unsauber angelaufen, bekleckert und voller getrockneter Tropfen besudelt war, konnte ich mir vorerst nicht erklären. Nach einem heftigen Gebet, das A. zelebrierte, aßen wir gemeinsam das reichliche Abendbrot. Die Nacht zog auf. Am Waldrand tanzten die Glühwürmchen, die konnte man nur sehen, wenn man die Verdunklungsrollos anhob. Denn Nacht herrschte schon vor der Nacht in den Zimmern der Menschen, sie hatten Angst vor den Sternschnuppen am Himmel, die auch ziehende Bomber oder markierende Christbäume sein konnten. Der Duft getrockneter Steinpilze, die kleingeschnitten auf Zeitungspapier lagen, erfüllte den Raum, wenn die Fenster zur Nacht ganz geschlossen wurden, damit das I icht nun gänzlich eingesperrt blieb. Am Fliegenfänger verendete in hohen verzweifelten Summtönen eine Stubenfliege. Tante kniete vor ihrem Hausaltar und begann mit der Litanei des Nachtgebetes. Alle Wünsche wurden eingebracht.
Dann entlud sich lautstark in höchstem Zorn ihre aufgestaute Ohnmacht vor dem Bilde Rosenbergs. Es wurde zum Spucknapf aller ihrer Verwünschungen. Jetzt wußte ich, warum das Foto solch getrocknete Unsauberkeit ausstrahlte. Ich zog meinen Kopf unter die Bettdecke, weil ich fühlte, meiner Tante nicht mehr helfen zu können. Das stille Haus am Anfang der Nacht war erfüllt vom Zorn, und all
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die Ohren der Partei in all den Bettzipfeln im Erdgeschoß mußten es hören. Aber nichts geschah in der Nacht, am folgenden Tag, noch in der Zeit meines Besuches. Man grüßte die Tante wie eh und je, sprach mit ihr beim Kirchgang, distanzierte sich nicht. Hielten die Bewohner sie denn alle für verrückt, oder war es die selten gewordene Moral eines kleinen Dorfes in unmoralischer Zeit, die Anna schützte?
Der Umgang mit meiner Tante wurde für mich zum Lehrstück. Ich weiß noch, daß ich mir in drei Sprachen »Guten Morgen« und »Guten Abend« beigebracht hatte: auf polnisch, russisch und französisch. Beim Pilzesuchen und Beerenpflücken, wenn ich von den Feldrainen und Waldrändern aus die Gefangenen und Fremdarbeiter auf den Feldern schuften sah, hatte ich sie in ihrer Landessprache begrüßt — sie alle antworteten mir erstaunt, doch wohlwollend. So hatte ich das Gefühl, gegen das Verbot erfolgreich verstoßen zu haben.
Der Ausklang meiner Jugend endete abrupt.
Es warteten auf mich die harten Knobelbecher, in die ich meine geschundenen, fußlappenumwickelten Füße zu stecken hatte, um damit blutige Spuren auf hartumkämpften Steppen zu hinterlassen. Es rettete mich nur ein tumber Zufall, ließ mich überleben, wenn auch blessiert.
Das weitere Schicksal meiner Tante Anna aber blieb im Nebel später Ereignisse.