Wenn eine unabänderliche Situation in totale Ausweglosigkeit mündet, sind die Träume der Nacht, die uns dann heimsuchen, oft hilfreich. Am anderen Morgen sind die Tränen versiegt, vermeintlich gestärkt durch die frohe Botschaft der Phantasie, erfährt man bald, daß es doch keinen anderen Ausweg als die Ausweglosigkeit zu geben scheint. Bereits am frühen Tag, wenn das Gefühl der Bitternis uns wieder überkommt, wächst die Sehnsucht nach den Phantasmagorien der Nacht. Um sich über die Stunden zu retten, sind wir bemüht, die Abläufe eines jeden Tages, den man durchlebt, dokumentarisch zu registrieren.
Wie ist die Haltung des Mannes hinter dem Tisch? — Schleift da etwa eine Tonbandspule? — Ist man der Daueraufnahme durch einen verborgenen Tonkopf ausgesetzt? — Sind es nur dämliche Fragen, die der eiskalte Herr stellt? — Verdeckt die Langeweile nur die Heimtücke?
Der Befragte ist auf der Hut, hat seine Gefühle in den Käfig der Vernunft gesperrt. Er will belanglos erscheinen, doch er ist immer bereit, den erwarteten tödlichen Biß abzuwarten; das stundenlang jeden Tag, monatelang.
Seine Augen hatten den täglich geführten Weg wahrgenommen und im Gehirn gespeichert. So wußte er, wie sich die Utensilien in den Gängen des Hauses veränderten. Schon bald hatte der so täglich Geführte Absonderliches bemerkt. Die unbedarften Passanten, die da draußen die Straße bevölkerten, würden eine stinknormale Hausfassade bemerkt haben, wenn sie sich überhaupt die Zeit genommen hätten, nach oben zu schauen. Hinter den geputzten Scheiben der einzelnen Stockwerke hatte man die üblichen Gardinen angebracht. Vor den geschlossenen Fenstern hingen Kästen voller roter Geranien. Also, was sollten die zufälligen Betrachter auch Nachdenkliches bemerken hinter solch prächtigem Blumenschmuck? Nur, die Haustür ließ sich nicht öffnen — niemand vermochte das Haus spontan zu betreten, keine Klingel — keine Namensschilder. Doch wer von den Eiligen drückte schon wahllos Türklinken.
Was in diesem Gebäude geschah, was in den Gängen und Räumen säuberlich aufbewahrt wurde, darüber wußte nur der täglich Geführte Bescheid, der sich jedoch jetzt nicht mitteilen konnte. Die Besitzer und Benutzer dieser Wohnungen dagegen verschwiegen aus dienstlichen Gründen ihre wichtige Arbeit und hatten auch Furcht, daß ihr Mißtrauen von den ahnungslosen Spaziergängern da unten bemerkt werden konnte. Die Herren der Räume verhielten sich konspirativ, die Türen waren dick gepolstert.
Der Flur, auf dem der Zugeführte stets zu warten hatte, bis sich für ihn die schalldichten Doppeltüren öffneten, war spiegelblank gewienert. Schön akkurat waren kleine, handliche Sandsäcke bis zur Fensterbrüstung gestapelt. In einer zweiten Formation lagen weitere Säckchen griffbereit, um bei Gefahr die Fensteröffnungen gänzlich abschotten zu können. Verschlossene lange, flache Holzkisten standen unübersehbar in Fensternähe. Alles war so geordnet abgestellt, daß selbst bei hektischer Betriebsamkeit keine gegenseitigen Behinderungen möglich gewesen wären. Die Hausbesatzung war in dieser zivilen Gegend gut geschützt und wehrhaft. Der wohlverwahrte Inhalt in diesen wohlgesicherten Kisten blieb dem Zugeführten verborgen. In der damaligen Situation hätte er auch niemals die Möglichkeit gehabt, sich eingehender damit zu befassen. Doch für einige Augenblicke schien ihm seine Phantasie Röntgenaugen verschaffen zu können. Wie auf einem Radarschirm vermeinte er die wohlsortierten Handgranaten, Maschinenpistolen und die dazu passende Munition zu sehen. Das Kampfmobiliar lag im Duft bekannter Reinigungsmittel. Daß Zimmer und Gänge überreichlich mit Feuerlöschgeräten ausgestattet waren, überraschte ihn nicht mehr besonders.
So hatte er Tage und Monate im Mastdarm seiner Republik zu leben. Tag für Tag das gleiche Bild, ehe er seinem hartnäckigen Befrager überstellt wurde. Er gewöhnte sich an diese Sandsackatmosphäre, bemerkte jedoch gewisse Veränderungen an den Stellplätzen der einzelnen Kisten. Er schloß daraus, daß der Inhalt in bestimmten Zeitabständen gepflegt und gewartet wurde.
Es waren die Nachwehen der Angst, die die Beherrscher befielen, daß sie sich so vorbeugend verhielten, um nicht noch einmal der Überraschung zu erliegen. Es waren noch keine zehn Jahre vergangen, daß die Wut der Menschen die Oberen in ihrer Machtsubstanz so nachhaltig bedroht hatte. Drei Tage waren es gewesen, die die Avantgarde so erschütterten. Die Eliten schworen sich danach unverbrüchlich, es dem Volke niemals zu vergessen. Darum die Sandsäcke, darum die verdeckten Pistolen.
Er erinnerte sich an die Tage im Juni, als die Front der Rebellion die unbewaffneten Angreifer über die Eisentore in die langen verriegelten Gänge spülte. Die Vergessenen damals dort drinnen spürten schon den Entsatz. Doch die Hoffnungen gingen im Echo der trockenen Salven dahin, als die ersten Leblosen in den Schutz der nullenden Menge getragen wurden.
Nachts, ehe er in den Schlaf fiel, glaubte er die gefrorenen Schreie der Bedrängten, die anbrandenden und verebbenden Schritte der Stürmenden und Fliehenden zu hören, als wären sie für alle Zeiten dort in den Labyrinthen aufgehoben und abrufbar.
Wieder war einer dieser unsäglichen Abende angebrochen. Zeit, sich den Woilach über die Nase zu ziehen. Zeit zu träumen, hin und her, auf mögliche Fragen die bestmöglichen Antworten zu präsentieren. In dieser Nacht hatte er seinen besten Traum. Am frühen Morgen, noch beim rhythmischen Schlagen und Poltern der Türen, beschloß er, komme was da wolle, das Geträumte in der Realität aufzuführen. Höchste Selbstkonzentration, stärkste Willensanstrengung waren nötig, um sich in den gewünschten außergewöhnlichen Zustand zu versetzen. Er wollte so den weiteren Demütigungen entkommen.
Das Zuführungsritual wiederholte sich; bald saß er wieder auf dem Schemel vor seinem Befrager, der alsbald begann, ihn durch ein verwirrendes System von Fragen auszuhorchen. Jetzt wollte er die geplante Aktion seiner physischen Veränderung einbringen, um dadurch zeitweise in den Zustand seiner frühen Kindheit zurückzukehren. Mit übermenschlicher Anstrengung preßte er seine gegenwärtige Existenz aus der ausgewachsenen Hülle seines Körpers (er folgte genau den Anweisungen seines Traumes), schrumpfte zurück ui die krummbeinige Gestalt eines greinenden Kindes. Seine kräftigen, behaarten Beine, die eben noch fest den Boden berührten, baumelten hilflos von der Sitzfläche herab, ohne die schäbige Auslegware zu erreichen. Dort lag auch der schwarzhaarige Flaum gekräuselter Beinhaare verstreut, die soeben von seinen schrumpfenden Waden abfielen. Ähnliches geschah auch mit seinen reichlichen Brust-, Scham und Kopfhaaren. Natürlich hatte das plötzliche Kind einige Schwierigkeiten, sich nicht in der übergroßen Kleidung
zu verstricken. So strampelte es sich frei.
Heulende, störrische Kinder im zarten Alter um die drei Jahre, dieses Alter hatte er sich gewünscht, solche Buben in der frühkindlichen Trotzperiode zeigen wenig Respekt vor Erwachsenen. Flugs krabbelte das nackte Kind mit einiger Behendigkeit vom Schemel, um sich fast zwangartig zu den kleinen Säckchen, aus denen einiger Sand rieselte, hinzubegeben. Der Sand bot sich zum Spielen an. Es hatte anfänglich einige Mühe, die Dinger zu öffnen, doch bald wurde der erdige Inhalt im Zimmer verstreut.
Der Onkel im weichen Fauteuil, soeben noch dienstlich mit Mißhandlungen beschäftigt, wurde vom Kinde lautstark zum Mitspielen aufgefordert, um den »militärischen Sand« in Eierpampe zu verwandeln.
Der Onkel aber war längere Zeit in eine Art Schreckstarre verfallen, war vorerst unfähig, dem Kind Einhalt zu gebieten. Er befand sich im Zustand totaler Verwirrung. Selbst der Bitte des grabenden Zwerges, ihm Buddelwerkzeug zu verschaffen, kam er wie gelähmt nach. So hantierte der Bube bald mit Kaffeelöffel und Gabel als Ersatz für Schaufel und Rechen. Beides entnommen dem kleinen Dejeuner des Befragers, dessen Kaffee aus den Thermoskannen nun in den Sand floß und ihn in einen passablen Modder verwandelte.
Der Onkel Vernehmer, nun endgültig durch das für ihn außerirdische Ereignis um den Verstand gebracht (so ergeht es gläubigen Materialisten), half dem Kinde, weitere Säckchen auszuschütten. Immer höher wuchs der Sandpegel im Raume — hinreißend schöne Gebilde entstanden unter ihren Händen. Buddelkind und Buddelmann durch schalldichte Türen geschützt, wühlten einträchtig spielend im Sandhaufen. Der jetzt paranoische Befrager — nun seiner Ideologie verlustig — entpuppte sich in diesem Zustand als liebenswürdiger, hilfsbereiter Zeitgenosse mit kindlichem Spieltrieb. Der Mann schien entschärft. In diesem Zustand sollte man ihn belassen. Das schändliche Kleinkind mit dem klugen, aber durchtriebenen Verstand des Erwachsenen beschloß nun, seine Rückverwandlung einzuleiten (streng nach Traumanweisung). Erfolgreich ausgewachsen, konnte der Zugeführte seine vordem abgestrampelte Kleidung wieder anziehen. Er entfernte einige noch haftende Sandspuren aus seinem Gesicht, setzte sich auf den Schemel und schaute mitleidig auf seinen früheren Peiniger und kurzzeitigen Spielgefährten herab, der vor ihm artig seine Sandburgen baute. Er gab ihm väterliche Ratschläge, die vom Spielenden brav angenommen wurden — so verging die Zeit in völliger Eintracht.
Am späten Nachmittag — Telefonanrufe wurden ja nicht mehr entgegengenommen — betraten einige Herren den Raum, erfaßten sofort die absonderliche Situation und veranlaßten unverzüglich den Zugeführten zurückzuführen. Dieser lag kurze Zeit später unter seinem Woilach und freute sich auf seinen nächsten Vernehmer.