Der Ablauf einer spontanen Grabpflege

Der Ablauf einer spontanen Grabpflege

Der große Poet hatte sich urplötzlich aus dem Leben geschlichen. Ohne Absicht, jetzt schon aufzugeben, mußte er es mit sich geschehen lassen. Sein arges Herz hatte ihn in den besten Mannesjahren übertölpelt, sich angemaßt, stille zu stehen. Hätte er seinen frühen Abgang noch selbst bemerken können, er hätte bestimmt mit einem letzten flotten Wort seinen Nachruhm bereichert. So blieb es beim überraschenden Tode, er schnappte noch einmal nach Luft und verschied.
Der große Poet war ein eitler, schillernder Zeitgenosse, mehr ängstlich denn mutig, aber ein sprachgewaltiger Autor, der großen Einfluß auf die Weltliteratur hatte. Der Meister des Wortes hatte seine Eleven, die ihm noch bei Lebzeiten zum Munde schauten. Obgleich es der Dichter weit von sich gewiesen hatte, je ein Hofpoet zu sein, gibt es eine unterwürfige Dankadresse von ihm an seine rigide regierenden Staatsoberen. Die waren dankbar dafür und überhäuften ihn mit Staatspreisen. Gerechterweise muß man berichten, daß er auch Kritik, wenn auch nicht sehr öffentlich, an die Führenden austeilen konnte. Diese zogen es vor, solches zu ignorieren.
Ich gebe zu, daß dieser Dichter in meinen jungen Jahren mächtige Wirkungen erzielte. Doch später habe ich diesen Übergott verlassen; der Mann und sein Werk hatten keinen Nutzen mehr für mich. Diese folgende Geschichte trug sich Anfang der 70er Jahre zu. Geniale Poeten verbreiten oftens einen arroganten Duft ihrer Hochrangigkeit, spüren den Drang, sich vom stinknormalen Mitbürger — abheben zu müssen, sei es im Leben, sei es nach dem Tode.
Der raffgierige kleine Mitbürger strebt nach Versandhausluxus, vergoldeten Wasserhähnen, Hilfsmarmor und anderen sich edel gebenden Zutaten. — Schlicht, er möchte sich so zeigen, wie er nie sein kann. Es fällt ihm schwer, am goldenden Füllhorn auch nur zu lecken, so muß er sich halt mit Talmi begnügen. Wie anders geben sich gelobte Dichter und das mit ihnen verbundene Künstlervölkchen, Darsteller, »Intuelle« mit den besseren Konten! Mit leicht gerümpfter Nase blicken sie in die intellektuellen Niederungen. Der Frust, immerdar ein literaisches Leitfossil verkörpern zu müssen, lastet schwer auf ihren Gemütern. So kommt es vielfach
vor, daß sie nur wider Willen den gebremsten Luxus auskosten können. Das Menetekel der Biederkeit schwebt immer über ihnen. Sie machen sich früh Gedanken im holden Kreis der Gleichgesinnten, wie ihre Grabhügel wohl auszusehen haben, und verfassen Testamente und Traktate der Schlichtheit. Im Hinterkopf nistet bestimmt der Gedanke, sich so nachdrücklich vom Kleingartenschmuck ausgewiesener Beerdigungsinstitute abzuheben. Manchmal machen die Staatsorgane den Herren Poeten einen Strich durch die Rechnung. Der geliebte Hofdichter bekommt gegen seinen Willen ein Staatsbegräbnis und findet sich flugs auf einem Prominentencemeterio wieder, eingerahmt in andere Schlichtheiten verblichener Kollegen, die ähnlich dachten. Solch sachlich gestylte Totenhügel, bestückt mit rohen Findlingen, wirken dann wieder fast langweilig. Da wallt Sehnsucht auf nach einem klagenden Engel als Grabfigur.
Staatlich bestellte Friedhofspfleger haben dann den Auftrag, über die Jahre hin die gewünschte Grababdeckung des Poeten zu erhalten. Die Pflege des kulturellen Erbes beginnt.
Unser großer Poet, das sei gesagt, erhielt keinen »rituellen Staatsabgang«, das hatte er sich verbeten. Man hielt sich daran. Andere Wünsche wurden wohl erfüllt. Hatte ihn doch noch während seines Lebens eine formidable Furcht befallen, er könne von einer Art Scheintotenstarre heimgesucht werden, die bei den Ärzten zu einer falschen Schlußfolgerung führe: er sei wirklich tot, und ihn so hilflos dem Beerdigungsinstitut überlasse. Solcherart wollte er nicht hinscheiden. Darum bat er, daß man ihm einen Stich ins Herze versetzen möge, sozusagen als endgültige Prophylaxe.
Dem Leser, der über einige Kenntnisse in der Gruselliteratur verfügt, wird sogleich der balkanische Graf Dracula einfallen, den man ja auch erst mit einem Holzpflock, der in seine Brust zu treiben wäre, endgültig umbringen könne. Allerdings ist in diesem Falle zusätzlich etwas Knoblauch vonnöten.
Der große Dichter war nun unter die Erde gebracht. Da machten sich Freunde, Grabdesigner, Künstler und Angehörige tiefsinnige Gedanken, wie seine Grababdeckung zu gestalten sei. Die internationalen Wirkungen als Dramatiker trugen dazu bei, daß man beschloß, schlichte Gräser aus verschiedenen Kontinenten und Ländern auf seinen Grabhügel zu pflanzen. Japanisches Wollgras, russische Steppengräser, chinesische Moose und manch andere frostharte Grasstaude überwucherten bald diese Gedenkstätte, fingerten aus und wurden zu Fußangeln. Sobald der späte Herbst den Friedhof überfiel, gab es traurige Stimmungen, wenn sich die trockenen Gräser sanft bewegten oder der Wind sie heftig zauste im frühen Schneetreiben, konnte man glauben, in ein Stück Steppe zu schauen. Bei Regen und Kälte schlug der Besucher seinen Mantelkragen hoch, und der scharfe Wind trieb ihm die Tränen in die Augen — so schien es, daß er gezwungen würde, Trauer zu zeigen. Der große Poet machte es einem wirklich nicht leicht, auch wenn man eigentlich froher Stimmung war.
Solche Schmucklosigkeit und die Verwahrlosung ungesteuerter Natur standen im Einklang mit der Menschenvergänglichkeit. Einfällige, ehrliche Gemüter mochten andere Vorstellungen von Grababdeckungen haben, fanden, daß solches Niedergestrüpp dem Poeten nicht zur Ehre gereiche. Dem Goethe hätte fast jede Stadt ein Denkmal aufgestellt — aber hier?
Im Laufe der Jahre wurde besagtes Grab zum Geheimtip für wallfahrendes Volk, Künstler und Staatsdelegationen aus aller Welt. Es gehörte zum guten Tone, dort ab und zu Kränze oder Blumengebinde abzulegen. Auch mancher Spaziergänger, den es immer mal wieder gibt, erreichte per Zufall dieses Grab. Der las dann erstaunt den Namen und verfiel sogleich in ein Aha-Erlebnis, »den kenne ich doch?« Scharfes Nachdenken! Aus dem letzten Kreuzworträtsel, Dichter mit sechs Buchstaben?
Oder war es das Fernsehstück vor einiger Zeit — das war wohl von ihm!
Die alte Dame, die kurze Zeit später vor diesem Totenhügel stehen wild, mochte diesen Dichter nicht nur, weil auch ihr Sohn diesen besonders verehrte, nein, sie hatte eine eigene, besondere Beziehung zu ihm. Sie, die Mutter, wohnte im westlichen Land der gleichen Sprache. Der Besuch der alten Dame beim Sohne geriet wie immer herzlich, wirkte auf ihn besänftigend im rauhen Klima der Zeit.
An einem der Tage fand sie endlich Muße, einen Spaziergang zu versuchen, allein, weg vom Sohne, der so anstrengend sein konnte. Sie fand den Weg über die dichtbefahrene Straße, suchte mit blicken eine größere Ansammlung von Bäumen und Sträuchern,
denn sie vermutete dahinter eine Parkanlage mit besserer Luft, um ihre Lungen zu reinigen. Sie betrat die gesuchte Oase der Ruhe durch ein geöffnetes Eisentor, stellte sofort erstaunt fest, daß sie unbeabsichtigt einen Friedhof gefunden hatte.
Wenn man das Ende seines Lebens besser überschauen kann, flieht man entweder vor solchen Orten oder man wird besonders neugierig darauf. Fängt an, sich schöne Plätze auszusuchen, wo man sich wohlfühlen könnte — später.
Dazu locken die Inschriften, die Geburts- und Sterbedaten auf den Steinen und Kreuzen, Vergleiche anzustellen. Oft kommt der Beschauer dabei besser weg. Der, die da starb, hats nicht lange ausgehalten im Leben. Solche Gedanken mochten sich bei der nachdenklichen Frau eingestellt haben. So wanderte sie von Grab zu Grab, freute sich über die Stille, bemerkte, daß auch ab und zu berühmte Namen in die Steine geschlagen waren. Prüfend begann sie abzuwägen, ob das Ambiente auf den Hügeln der Bedeutung der Personen auch würdig sei. Dabei stieß sie auch auf die Grabstätte des großen Poeten. Da genügte ihr ein kurzer prüfender Blick, um eine unangemessene Verwahrlosung wahrzunehmen.
»Unwürdig!« war ihr einziges Wort, und sie beschloß, diesen Zustand zu ändern.
Nachdenklich beendete sie ihren Ausflug, kürzte reichlich den Rückweg ab, befragte den erstbesten Passanten, der ihren Weg kreuzte, nach einem Blumenladen. Der Weg wurde ihr umständlich beschrieben, und die stadtfremde Besucherin hatte ihre liebe Mühe, sich bis zum angegebenen Laden durchzufragen.
Das Angebot, das sie dort vorfand, war mehr als kläglich — ein bescheidenes Quantum roter Eisblumen lag in der Auslage, wenige nicht gerade frische Schnittblumen steckten in einigen leeren nun mit Wasser gefüllten Gemüsegläsern. Garniert war alles mit sandigen, keimenden Kartoffeln, halbwelkem Landgemüse aller Art wie Kohlköpfen, Welschkraut, schrumpligen Möhren und Gurken, ausgewachsenen Zwiebeln. Darüber hingen angepinnt an Spagatfäden 1. Sekretärs-Portraits, Stellvertreter- und Ministerkonterfeis, die längst der Gilb heimgesucht hatte. Zwischen diesen Waren türmte sich eine Blechpyramide einer gleichen Konservendose auf.
Bei solchem Angebot zerbrach augenblicklich der Plan der alten Dame, ein blumenreiches Grab für den großen Dramatiker schaffen zu können, ein Grab, so bunt und fröhlich zu gestalten, wie sie die kleinen Bauerngärten aus ihrer Jugendzeit kannte. Der so übel ausgestattete staatliche Blumen- und Gemüseladen drückte alle Phantasien in die Niederungen des Alltags.
Lustlos kaufte sie die noch vorhandene Blumeneinheitskollektion — rote Eisblumen.
Das mochte noch angehen, dachte sie, daß die kleinen Blüten von kräftiger roter Farbe waren. Zu dieser Farbe hatte sie aus verschiedenen Gründen eine besondere Zuneigung. Die Verkäuferin suchte einige Zeitungen zusammen, verpackte das Gekaufte, so gut es eben ging, zu einem handlichen, tragbaren Packen.
Zurückgekehrt in die Wohnung, in der sie zu Besuch weilte, mag sie nach kleinen Gartengeräten gesucht haben. Eine Schere, einen großen Löffel wird sie dort schon aufgetrieben haben, denn es ist nicht bekannt geworden, daß ihr Sohn je einen Schrebergarten oder ähnliches bearbeitet hätte. Also, richtige Gartengeräte waren wohl Fehlanzeige.
Zurückgekehrt zum Grabe, ausgerüstet mit den »Gartenbearbeitungshilfsgeräten« und besagten Blumenpacken, machte sie sich sogleich daran, die sich ungestüm ausbreitenden Gräser auszurupfen. Bei einigen Stauden versagte die Kraft der alten Dame, da sich die Wurzeln allzu heftig im Boden festkrallten. Da war die mitgebrachte Schere hilfreich; entschlossen wurden die Grasschöpfe kurzgeschoren, so wie man früher die Rundköpfe mancher Buben kurzgehalten hatte.
Emsig schritt der Kahlschlag voran, mit dem mitgebrachten Löffel wurde die Erde recht und schlecht umgebrochen, gelockert, um die Pflanzlöcher für die mitgebrachten Eisblumen vorzubereiten. Dann begann der Akt der Verschönerung. In Reih und Glied nach Zinnsoldatenmanier entstand eine rote Grabrabatte zu Ehren des Dichters, der sich nun in die Kleingartenidylle abgedrängt fühlen mußte — doch er blieb zum Glück der alten Dame sprachlos.
Leere Gemüsegläser finden sich bei jedem Friedhofskomposthaufen, nahe beim immer tropfenden Wasserhahn. Mit solchen Gefäßen kann man genügend Wasser zur Grabpflege transportieren. Sie tat solches, und die Eisblumenpracht wurde angegossen. Dann verließ die Greisin mit guten Gefühlen den Gottesacker, grüßte die wenigen alten Herrschaften, die auch auf Spaziergängen unterwegs waren, und verschwand durchs Eisentor. Am nächsten Morgen war ihr Besuchervisum abgelaufen — sie hatte die Stadt zu verlassen. Tage später hing ein böses Gerücht über der Hauptstadt. In Künstler- und Intellektuellenkreisen munkelte es: Das Grab des großen Poeten sei geschändet, der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Der Feind war am Werk! Um den Frevel aufzudecken, die bösen Handlanger zu entlarven, werde man die Sicherheitsbehörde informieren.