Über die verschiedenen möglichen Lebensläufe des A.P.

Über die verschiedenen möglichen Lebensläufe des A.P.

Wer spricht noch von ihm, dem Anatol Popow, Maschineningenieur auf seiner Majestät Panzerkreuzer »Admiral Nachimow«? Ausgewiesen wird sein Name allerdings auf der alten Grabplakette für das Schiff »Kyrill«. Doch das mag Tarnung gewesen sein für die folgende Kriegsaktion, die der russischen Flotte so böse Folgen bescherte.
Wie hatte man A. Popow damals um die Sylvesterzeit des Jahres 1904 begraben? In seiner Parade-Uniform etwa, mit all den nutzlosen Orden, die ihm einst vom Väterchen Zar verliehen wurden? Hatte man ihm wenigstens seine weichen Juchtenlederstiefel geputzt, ehe man ihn in den Kasten, der das frühe Ende seines Lebens bedeutete, packte? Die sechs Bretter und vier Brettchen, waren sie aus edlem, haltbaren Palisanderholz? War er seinem Zaren so viel wert, der Popow, der vorweg starb, noch vor seinem eingeplanten Heldentod. Denn Monate später war es auch um seine mitreisenden Matrosen und Offiziere geschehen, denn das Panzerkreuzerchen flog einfach in die Luft — japanische Seeleute hatten zu gut gezielt! Ich komme ins Grübeln, wenn ich an den unheldischen Tod dieses Anatol Popow denke. War es die Cholera, der er erlag, die tödliche Bestrafung durch Insubordination, ein gebrochenes Genick, ein zerquetschter Kopf nach einem unglücklichen Sturz ins Maschinengestänge des kohlebefeuerten Aggregats auf dem schwimmenden Eisenmonster, das die friedlichen Gewässer um Nosy Be aufwühlte? Die »Admiral Nachimow« schwamm bestimmt nicht allein in den späteren Tod! Mit ihr zog noch eine Armada anderer Stahlsärge nach Fernost. Ein paar Stunden mögen viele der Kriegsschiffe vor der kleinen tropischen Insel im Indischen Ozean vor Anker gegangen sein, um Kohle zu bunkern und sich ihrer paar Toten oder Sterbenden zu entledigen. Die gußeisernen orthodoxen Grabkreuze, die man später auf die Gräber steckte oder stecken ließ, werden zum Fundus des Panzerkreuzers gehört haben. Das nannte man christliche Vorsorge.
Die rudernde Crew hat dann die Krepierten, die in Agonie gefallenen im kleinen Hafen von Hell-Ville an Land gebracht — Goldoder Silberrubel für den Abgang hinterlegt, sich sogleich in die Riemen gelegt und die Rückfahrt zu den genieteten Eisenschiffen
angetreten, denn der Krieg duldet keine Wartezeiten.
Was bis heute blieb, sind die kläglichen Angaben auf einem der verrosteten russischen Grabkreuze. »Hier liegt Anatol Popow, Maschineningenieur auf der ,Kyrill‘. Gestorben am 30. Dezember 1904.« — Aus.
In der Wirrnis des zuwachsenden und verfallenden Friedhofs stecken noch einige andere solcher orthodoxer Grabkreuze in den aufgesprungenen und geborstenen Grababdeckungen. Die ovalen Schilder sind durchgerostet — die Namen der toten Matrosen hat die Zeit verweht.
Ein Stück Zeitgeschichte für die Analen schlauen Bücher, die sich bisher kaum um die Einzelschicksale damals Betroffener kümmern!
Wir werden niemals mehr dahinterkommen, ob der Anatol ein lustiger Mann war, der manchmal schwermütige Lieder sang. Seine Mamuschka wird es nicht gewußt haben, daß ihr Sohn schon vor dem festgesetzten Tod gestorben war. Wer sollte es ihr und seiner jungen Frau, wenn er denn eine gehabt haben sollte, auch berichtet haben? Die Besatzung ist ja, wie schon erwähnt, später mit Mann und Maus ersoffen, und die Logbücher und die bürokratisch geführten Abgangslisten sind mit ins Japanische Meer gesunken. Anatol Popow, du Vergessener, hatte dich der Makel des Zufalls ereilt, den die Menschenhistorie so großzügig verteilt?
Hättest du zufällig in dieser Zeit im Dienste der Schwarzmeer flotte gestanden, möglicher Ruhm wäre auf dich gefallen. Doch mit der Ostseeflotte war damals kein Blumentopf zu gewinnen, die war verdammt dazu, in Fernost ruhmreich unterzugehen. Als Maschinisteningenieur dagegen auf einem später berühmten Kriegskahn, der oft in den Häfen von Sebastopol oder Odessa schwamm, ehe er in neutrale Gewässer entkam, ich wage es kaum, für dich, Anatol, auszudenken, meine aber die »Potemkin«; was alles wüßte man vielleicht noch heute von dir. Egal auf welcher Seite du gestanden hättest, als die meuternde Besatzung Kapitän und Offiziere mit der roten Fahne knebelten, du hättest bei S. Eisenstein Filmgeschichte gemacht. So oder so, um’s Leben wärst du dabei allemal gekommen. Entweder vor dem zaristischen Erschießungspeloton als ein Anführer von Meuterern nach dem hoffnungslosen Ausgang der Rebellion, oder eine proletarische Gewehrkugel hätte dir deinen
Kopf geknackt, als du gegen die Aufständischen vorzugehen hattest. In dieser von mir ausgeloteten Version deines Lebens wärest du allerdings etwas länger am Leben geblieben, und deine Körperhülle brauchte nicht in fremder Erde zu verfaulen, denn ich weiß, russische Menschen brauchen russische Erde.
Der Herrscher aller Reußen hätte dir ein kleines Heldengrab zukommen lassen, wenn du einer der Seinen gewesen wärest — doch die späteren Sieger der Revolution würden es wieder eingeebnet haben, bestimmt, denn es zahlt sich nimmer aus, Niederlagen auszubaden. Dagegen mit dem Makel eines Aufständischen behaftet, wärest du vorerst als ein Namenloser im Massengrab für Unehrenhafte verscharrt worden, bis nach Ablauf von eineinhalb Jahrzehnten die proletarischen Sieger deine Knochen in Ehren wieder ausgebuddelt und dich, Anatol Popow, in einem Heldenhügel zum Ruhme der Revolution ein zweites Mal beigesetzt hätten. Ein gewaltiges Denkmal würde am Schwarzen Meer stehen, und der Name Anatol Popow wäre in aller Munde. Ein toter Held!
Weiteres Nachdenken über Anatol Popow. Was wäre geschehen, wenn er damals grade in Nizhnij-Nowgorod in seiner von mir angenommenen Heimatstadt an der Wolga, bei seiner jungen Frau Olga auf Urlaub gewesen wäre? Er, wieder einmal seinen traurig gestimmten Kopf in die weiche Fülle ihrer schönen Brüste steckend, so Trost suchend, bei ihr gelegen hätte, während die Ostseeflotte aus dem Petersburger Hafen unter schwarzen Rauchschwaden, die wie ein Menetekel am Himmel hingen, abdampfte? Nosy Be und die Folgen wären ihm erspart geblieben. Doch bald stand wieder ein neuer Krieg an! Flottenoffizier wäre er geblieben — das war sein Metier — wohl grauhaariger und ein Offiziersrang weiter nach oben befördert. Mag sein, daß sein Schiff später vor Ösel der Blasenbahn eines deutschen Torpedos gerade noch mal entkam. Doch welche Lebenserwartung hat schon ein Offizier auf einem Kriegsschiff? Die Seeschlachten häuften sich, und ist er in einem der unübersichtlichen Seefechte doch noch umgekommen?
Wenn nicht, wenn er sein Leben ins Jahr 1917 hätte hinüberretten können? Er mußte bald entscheiden, für wen er sich zukünftig weil erschlagen möchte! Wiederum schlechte Aussichten, angemessene Jahre älter zu werden. Nicht auszudenken, wenn er, Anatol Popow, gar auf dem Kreuzer »Aurora« gewesen wäre, als dieser den historischen revolutionären Schuß losböllerte! Kam er dann als Marineoffizier beim Sturm aufs Winterpalais möglicherweise um Kopf und Kragen? Ruhm — ewiger Ruhm wäre ihm sicher gewesen — doch im Tausch dafür wäre sein Lebensfaden gerissen. In rotes Tuch hätten ihn seine überlebenden Gardetruppen eingewickelt und ihn angemessenen Schrittes durch die kalte graue Novembernacht getragen. Auch hier stünden ihm die goldenen Letter der Revolution zu!
Anatol Popow, der revolutionäre rote Marineoffizier, der er gewesen sein könnte, wenn ich weiterhin sein mögliches Leben ungebührlich befrachte!
Jahre später könnten wir ihn auf der Festung Kronstadt, der Insel vor dem später umbenannten Petersburg wiedertreffen! Während das russische Land im Blutrausch von Revolution und Gegenrevolution ersoff, hätte er, Popow, bis zum Jahre 1921 genug Zeit gehabt, mit seinen roten, anarchistischen Matrosen über den Sinn der soeben abgelaufenen sozialen Revolution nachzusinnen. Denn sie spürten, das Ergebnis war erbärmlich genug. Doch die unterdrückte Geschichte gibt bis zu diesem Zeitpunkt darüber kaum noch Auskunft, was weiter geschah.
Die Matrosen die Kronstädter Avantgarden waren es müde geworden, den würgenden Machtarm der Bolschewiki und ihrer Apologeten weiterhin zu erdulden. So forderten sie gleiche Bürgerrechte für alle und Demokratie — jetzt.
Lenin war auf roten Terror eingestellt; schickte Lew Trotzki vor die Seefestung. Der zahlte es A. Popow und seiner vielköpfigen Garnison heim; ließ mit reichlich ausgegebenen Patronen die Seinen mit den Budjonnenkas wüten unter den sich lange sträubenden Unbotmäßigen. Die sich da gegenseitig mit Eisen und Blei zerhackten, trugen kesse Matrosenmützen mit kyrillischen Zeichen auf den flatternden Bändern. Vordem noch miteinander kämpfend, nun ohne Pardon gegeneinander. Was übrigblieb von den ehemals ruhmreichen Kronstädtern? Ihre Namen wurden durch die Hinrichtungskommandos aus dem Gedächtnis der russischen Nation geschossen!
Ach Anatol Popow, ich will keine weiteren Lebensversionen mehr weiterspinnen. Du kommst nicht besser dabei weg. So bleibt es bei deinem immer mehr vergehenden Grab auf Nosy Be. Die Zeiten waren ungut, um friedlich alt zu werden, so alt wie die große Landschildkröte, die ich auf der Insel traf.
Nun wäre noch aufzuschreiben, wie ich Anatols Grab aufstöberte, wo andere Besucher dieser Insel sich lieber an den Strand legen und baden gehen, am Abend Coco-punch schlürfen. Da hat sich bei mir so eine Besonderheit entwickelt, intensiv treibt es mich immer auf die alten Friedhöfe, wenn ich eine fremde Stadt, ein unbekanntes Land besuche. Ich habe gelernt, daß man dort am besten die Geschichte des Volkes aufspürt. Der Tod ist erhaben über Sieger und Besiegte, die alten Grabinschriften auf den umgekippten und bemoosten Steinen sind beredt, machen nachdenklich — die Lebensabläufe, die darin eingebundenen Schicksale. Am Ende ergeben solche mannigfaltigen Bruchstücke den Reim auf die Historie. Es sind meistens die kleinen Köpfe, die da in der Erde liegen, überwuchert von wildem Gras, nur ab und zu zeigt eine geborstene Marmorsäule oder eine andere edle Zutat, daß dort ein Großkophta verblichen ist. Bei solcher Neugier bin ich über den Fremdling Anatol Popow gestolpert.
Nosy Be, diese Gewürznelken-Vanille-Kaffee-Zuckerrohr- und Ylang-Ylanginsel, ist auf der Erdkugel nicht viel mehr als ein Fliegenschiß vor der viertgrößten Insel der Welt.
St. Marie war mir aus der Piratenhistorie bekannt. Bücher darüber habe ich in jungen Jahren geradezu verschlungen. So wurde die erste Sehnsucht geweckt. Die zweite Sehnsucht entwickelte sich recht absonderlich. In bösen Tagen hatten wir ein Seeräuber- oder Seefahrerlied in die Sanddünen der Bümmersteder Tredde bei Oldenburg zu schmettern, wenn wir genügend den Heldentod geprobt hatten, zurückmarschierten in unsere Kasernen. (Diese dämlichen steinernen Behausungsvierecke haben den Krieg unbeschädigt überstanden und können somit weiterhin Soldaten fürs unsinnige Tagwerk dienen. Zum Überdruß ist der Kasernenname weiterhin gültig geblieben, einem Manne zu Ehren, dem der Krieg einst wie eine Badekur bekam.)
Eine Trillerpfeife des Uffz. moderierte damals das richtige Schritttempo, damit auch alles markig erscheine, das Knallen der Stiefelsohlen aufs Straßenpflaster, verbunden mit dem obligaten Widerhall in den Straßenschluchten. Es sollte die Mädchen an die Fenster locken. Doch die blieben jetzt aus, denn sie hatten ihre Freunde zu
beweinen. Dann brüllte jemand mächtig: »Ein Lied! — Wir lagen vor Madagaskar!« Da hatte mich meine erste Sehnsucht eingeholt lind leitete meine zweite Sehnsucht ein. Ein auserwählter Vorsänger gab den richtigen Ton für den Einsatz an, und nach einem kurzen »Drei, vier« fiel die Sangesmeute marschierender Muschkoten in die Liedmelodie ein. Je lauter wir brüllten und das folgende Liedecho mit dem Stiefelknallen harmonierte, desto freundlicher wurden die sonst so verbissenen Mienen unserer Schleifer. Da dümpelten wir vor der fernen großen Tropeninsel — die Beulenpest eiterte uns die Lymphknoten aus dem Leib. — Das Trinkwasser faulte, und immer wieder wurden Pestleichen in die Straße von Mosambique oder in den Indischen Ozean gekippt. — Der Leichtmatrose, der dümmliche lange Hein, trank den verpesteten Sud aus den Wasserkesseln, fiel sogleich aus den Stiefeln und begann ad hoc zu verfaulen. —
Von dieser Insel voller Abenteuer hatten wir im grauen November des Jahres 1944 zu singen! Ich träumte mich förmlich nach Madagaskar, begleitet vom Text, der so wehmütig Heimweh verbreitete, wenn vom Schifferklavier die Rede war. — Doch da scheiterte schon unser Windjammer auf einem Riff, nachdem tagelang die Segel schlaff darnieder hingen. —
Da dachte ich mit dem Lied ans ferne Madel, das so gern auf den Bauch geküßt werden wollte, wie’s im Jargon des Intervallfüllers so heißt. Das Fernweh verfolgte mich mit diesem Lied, das mir so gut von den Lippen ging, ließ mich träumen, fast süchtig werden, bis ich mir plötzlich die Nase am Kochgeschirr meines Vordermannes blutig stieß, meine Beine sich mit denen meines Vorläufers verhedderten, und wir beide so ungewollt ins Wanken gerieten. Den dröhnenden Anschiß, der unserem unmilitärischen Verhalten folgte, vermeinte ich aus dem zahnlosen Maul des Ersten Steuermannes unserer Piratenbrigantine zu vernehmen. Die Realitäten waren aber nicht so.
Der Traum blieb. 42 Jahre später bin ich wieder mal gestolpert — wie schon erwähnt — über das soeben beschriebene Grab des Anatol Popow.